Als Beobachter und Analyst deutscher Aussen- und Sicherheitspolitik fragt man sich derzeit: Wohin steuert unser Land geopolitisch? Hat Deutschland eine eigenständige aussenpolitische Strategie? Oder werden wir von enormen globalen geostrategischen Verschiebungen, ausgelöst durch die meist kompromisslose Wahrnehmung politischer Interessen der Grossmächte USA, China und Russland, umhergeschoben, und fährt unsere Aussenpolitik auf Autopilot oder maximal im Reaktionsmodus?
Wie ist unser Plan für den von keiner Konfliktpartei zu gewinnenden Ukraine-Krieg mit sinnlosen Todesopfern sowie blindwütiger Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen Menschen in unmittelbarer geografischer Nachbarschaft?
Wie werden wir uns gegenüber China, das zugleich unverzichtbarer Wirtschaftspartner, Konkurrent und politisch systemischer Gegner ist, mittel- und langfristig verhalten und behaupten?
Wann wird die von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar dieses Jahres verkündete Zeitenwende sicherheitspolitisch endlich umgesetzt und nicht nur ein paar neue Kampfflugzeuge und Hubschrauber in den USA gekauft, was – wie immer – an Kriegen von gestern ausgerichtet ist, sondern wann erfolgt endlich die seit Jahrzehnten überfällige fundierte Analyse künftiger Bedrohungen unserer Sicherheit sowie die Definition notwendiger militärischer Fähigkeiten, Strukturen und Ressourcen, um diesen Bedrohungen wirksam zu begegnen?
Fakt ist, dass wir sicherheitspolitisch seit vielen Jahren bis zur Handlungsunfähigkeit entkernt und völlig abhängig sind von den USA.
Dabei laufen wir derzeit Gefahr, uns in ein Zerwürfnis mit unserem engsten europäischen Partner Frankreich zu verirren. Wir erleben vor allem aussenpolitisches Stückwerk und politische Entscheidungsträger, die auf ihren Auslandsreisen durch fragwürdige Auftritte und bedenkliche Äusserungen glänzen, ohne auch nur annähernd über die Mittel zu verfügen, solchen zum Teil fatalen Ansagen Taten folgen zu lassen. Folglich schätzen uns bisherige Partner aussenpolitisch vermehrt als irrelevant bis lächerlich ein und richten ihre Positionierung uns gegenüber neu aus.
Besonders augenfällig erscheint erratisches aussenpolitisches Handeln von Protagonisten der Entscheidungselite zurzeit im Umgang mit dem Emirat Katar im Kontext der aktuellen Fussball-WM.
Wir erinnern uns: Noch am 22. Marz dieses Jahres verneigte sich Wirtschaftsminister Habeck betont tief vor seinem katarischen Kollegen Saad Sherida Al Kaabi in Doha, als Habeck dort einen Monat nach Ausbruch des Ukraine-Krieges um raschen Ersatz für das aus Russland ausbleibende Erdgas ersuchte.
Am 20. November trug die deutsche Innenministerin Faeser während der Eröffnungsfeier der Fussball-WM in Katar demonstrativ und gut sichtbar die One-Love-Binde. Minister Habeck wiederum bezeichnete noch vor wenigen Tagen die Durchführung der WM in Katar als «bekloppte Idee» und nur durch Korruption im Zusammenhang mit der Fifa zu erklären. Dem deutschen Torhüter Neuer empfahl er, trotz des «Binden-Banns» der Fifa besagte Kapitäns-Binde anzulegen und es darauf ankommen zu lassen.
Und wie peinlich wirkte die Hand-vor-den-Mund-Geste unserer Spieler vor dem Spiel gegen Japan, welches man dann auch noch verlor. Ausländische Medien kommentierten sinngemäss: Fussballer sollten sich auf Ball und Toreschiessen konzentrieren und Politik den Politikern überlassen.
Da fragt man sich: Cui bono?
Wem nutzt es, und welches ist die politische Zielsetzung solcher Handlungen und Äusserungen? Oder hat unsere politische Entscheidungselite den aussenpolitischen Kompass völlig verloren?
Vorbei sind die Zeiten, in denen Angehörige der Bundesregierung bescheiden, diplomatisch respektvoll, aber zielführend in anderen Ländern auftraten.
Hat der ehemalige ehrliche Makler Deutschland, der in manch heikler diplomatischer Situationen erfolgreich vermitteln durfte, seinen Dienst quittiert? Anstelle leiser, aber kluger Diplomatie tritt nun polterndes und apodiktisches sowie arrogantes Moralisieren – sogar im Beisein der Gastgeber. Der erfahrene französische Kardinal und versierte Diplomat Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord plädierte bereits im 18. Jahrhundert dafür, in diplomatischen Angelegenheiten «sans trop de zèle» (zu Deutsch: ohne blinden Eifer) vorzugehen. Denn eines ist sicher: Wir werden Katar mit unserem überheblichen Moral-Gepoltere nicht zur Änderung seiner LGBT-Kultur und -Gesetze bewegen.
Wie wäre es hier mit einer Prise politischer und sportlicher Konsequenz in der Causa Fussball-WM in Katar?
Seit Jahren ist dieses Land als Austragungsland ausgewählt. Wenn Katar offensichtlich nicht unsere hohen moralischen Anforderungen erfüllen und die Fifa eine solch verwerfliche Mafiaorganisation sein sollte, warum hat man dann die deutsche Nationalmannschaft nicht lange vorher von diesem Turnier abgemeldet und vor einer Teilnahme in einer menschenverachtenden Hölle bewahrt? Auch hätte kein Berliner Politikemissär sich den Gefahren einer Reise in dieses ach so rückständige Land aussetzen müssen. Oder sind es dann doch paradiesischer Komfort und Luxus der katarischen 6-Sterne-Hotels, die vom Steuerzahler finanzierte Dienstreisen unwiderstehlich werden lassen?
Das aktuelle Katar-«Bashing» halte ich aussenpolitisch für falsch und unangemessen. Das nach unserer Einschätzung autokratische Emirat Katar hat sich aussenpolitisch zu einem stabilen, verlässlichen und strategisch wichtigen Partner in der geopolitisch noch immer sehr volatilen Golfregion entwickelt. Aber anstatt zu akzeptieren, dass es nicht nur wertegebundene, sondern vor allem auch interessengeleitete Aussenpolitik gibt, erkor man das Golfemirat selbstherrlich zur Zielscheibe eigener Moralkanonaden.
Der französische Staatspräsident Macron schlug vor einigen Tagen einen gänzlich anderen Weg ein: Er lobte Katar für seine bisherige politische und wirtschaftliche Entwicklung und bot die Hilfe Frankreichs für den weiteren Weg an. Dies könnte künftige Abschlüsse lukrativer Aufträge für die französische Wirtschaft beflügeln, was bestimmt auch uns gutgetan hätte.
Gegenüber China und Russland verhielt man sich anlässlich der Olympiade und Fussball-WM auffallend konzilianter. Gelegentlich sollte man sich in Erinnerung rufen, dass es neben sogenannter regel- und wertegebundener Aussenpolitik auch nationale Interessen gibt.
Natürlich ist die Aussenpolitik demokratischer Staaten von Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geprägt. Dieser Grundsatz begründet jedoch keinen Anspruch gegenüber sogenannten totalitären Nationen, demokratische Werte immer und überall durchsetzen zu wollen, moralisierend aufzutreten und legitime eigene nationale Interessen stets unterzuordnen. Zudem ordnet der EU-Vertrag von Lissabon von 2009, dem sich alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet haben, das interessengeleitete aussenpolitische Handeln gegenüber dem wertegeleiteten nicht nachrangig ein.
Es ist somit eine politisch notwendige Entscheidung und Haltung, hier die Balance zu wahren. Es wäre gegenüber der Gastgebernation Katar sicher angemessen, sich als Gast respektvoll zu verhalten und entsprechende, wenngleich berechtigte Kritik medial weniger polternd anzubringen.
«Sans trop de zèle», also nüchtern betrachtet ist die derzeitige vornehmlich deutsche Woge der Entrüstung gegen Katar überflüssig und für uns aussenpolitisch nur schädlich. Die ständig aktualisierte Homepage des Auswärtigen Amtes stellt offiziell fest, dass Katar aufgrund seiner engagierten Aussenpolitik in vielen regionalpolitischen Fragen für Deutschland ein wichtiger Partner ist und Deutschland ausgeprägte Handelsbeziehungen zu Katar unterhält. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Katar im Zuge des Abzuges von Nato-Truppen aus Afghanistan eine strategisch unverzichtbare Drehscheibe auch für Deutschland bei Truppenverlegungen, Evakuierungen von Botschaftspersonal und Flüchtlingen gewährte. Das Auswärtiges Amt konnte nur aus Doha heraus dringende Hilfs- und Protokolloperationen in Kabul in Kooperation mit Alliierten erfolgreich erledigen. Wäre hier nicht etwas Dankbarkeit oder zumindest diplomatische Zurückhaltung gegenüber Katar angebracht? Oder versagt unser Gedächtnis total?
Auch die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, berät die Bundesregierung) kommt im Oktober 2022 in einer offiziellen Studie zur Aussenpolitik Katars zum Ergebnis, Katar sei ein prowestlicher Verbündeter und Forderungen nach einem Boykott der Fussball WM 2022 seien ungerechtfertigt. Weiter führt besagte Studie aus, der Golfstaat werde zwar autoritär regiert, sei aber nach innen weit liberaler und nach aussen deutlich kooperativer und friedfertiger als nahezu alle seine Nachbarn in der Golfregion.
So beteiligte sich Katar 2015 nicht am durch Saudi-Arabien angeführten militärischen Überfall der Golfstaaten auf einen völlig wehrlosen Jemen. Diese mit US-amerikanischer sowie britischer Unterstützung bis heute andauernde Militäroperation ohne jegliches völkerrechtliches Mandat hat bisher mehr als 200.000 unschuldige Menschenleben gekostet und gut sechs Millionen Jemeniten in Elend und Flucht getrieben. Opfer, die vor keinem Gericht dieser Welt jemals eine gerechte Rechtsprechung erfahren werden. Deshalb sollte die deutsche Politik, wie abschliessend von der SWP-Studie gefordert, sich selbstbewusst zu intensiven Beziehungen zu Katar bekennen.
Stattdessen wird keine Gelegenheit ausgelassen, das Emirat als Prügelknaben zu fokussieren, und dabei völlig verschwiegen, dass alle an der Fussball-WM beteiligten Verbände den Regularien der Fifa zugestimmt haben. Diese legen unter anderem fest, dass die Fifa die Kapitäns-Binden zum Turnier bereitstellt. Es wäre vielleicht gerechter, die Fifa mit ihren korruptionsverdächtigen Machtstrukturen und zweifelhaften Verhalten aufs Korn zu nehmen. Ich erinnere hier insbesondere an die peinlichen Äusserungen ihres Präsidenten zur Eröffnung der aktuellen Fussball-WM.
Es geht mir nicht darum, die Bedeutung der universell geltenden Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kleinzureden. Dies sind sehr wertvolle Güter, die es unbedingt zu schützen gilt. Erinnern wir uns daran, wie lange wir in Deutschland gebraucht haben, bis wir sie verfassungsfest implementieren konnten. Die von Emotion und Häme getragene Moralkampagne gegenüber Katar jedoch droht unsere bilateralen Beziehungen ernsthaft zu schädigen und andere potenzielle Partner in der Region abzuschrecken. Dies liegt nicht in unserem aussenpolitischen Interesse. Hoffen wir, dass unsere politische Entscheidungselite die aussenpolitischen Interessen unseres Landes kennt und diese diplomatisch klug und zielführend umsetzt.
Und die Karawane zieht weiter. So hat das Emirat am 22. November 2022 einen für 27 Jahre bindenden Vertrag über umfangreiche Lieferungen von Flüssiggas mit China abgeschlossen und will die künftige Zusammenarbeit mit der Volksrepublik weiter vertiefen. Seit Ende November gibt es nun auch einen Gasdeal Katars mit dem deutschen Petenten. Ab 2026 sollen jährlich zirka 2,7 Millionen Kubikmeter Flüssiggas über die US-Firma Conoco Phillips geliefert werden. Analysten sehen hierin auch einen klugen Schachzug der Katarer: Schaut her, die Deutschen kritisieren uns wegen Demokratiedefiziten und Missachtung von Menschenrechten, aber unser Gas nehmen sie trotzdem.
Natürlich kann diese geringe Menge die jährlich zirka 55 Millionen Kubikmeter von Gazprom gelieferte Energiemenge nicht ersetzen. Vielleicht bleibt uns als schwacher Trost dennoch ein Teil moralischer Luftüberlegenheit erhalten. Mit dieser lassen sich aber auch dann keine Wohnungen in Deutschland heizen.
Engelbert Theisen, 67, ist Oberst ausser Dienst. Er arbeitete weltweit im sicherheitspolitischen und diplomatischen Bereich unter anderem für die EU und die Uno. Er ist verheiratet und lebt in Moosburg, Österreich.
Dankeschön. Es ist wirklich faszinierend, mitzuerleben, wie eine Art polit-medialer Komplex in alle Bereiche der Gesellschaft und des Staates vordringt und das rationale Denken und Handeln als etwas Absurdes, Krankhaftes- das kritische Hinterfragen als feindlichen negativen* Akt (Stasi-Sprache) umzudeuten und in die Köpfe einzupflanzen vermag.
"[Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind] sehr wertvolle Güter, die es unbedingt zu schützen gilt. Erinnern wir uns daran, wie lange wir in Deutschland gebraucht haben, bis wir sie verfassungsfest implementieren konnten." Menschenrechte und Rechtsstaat? Echt jetzt? Erinnert sei an das Vorgehen der Polizei bei den Corona-Massnahmen-Demos; an diverse Hausdurchsuchungen bei Regierungskritikern usw. Michael Ballweg sitzt seit 6 Monaten in U-Haft - mit lächerlicher Anklage. Yepp.