Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990. Hoffmann und Campe. 592 S., Fr. 41.90

Mehr als drei Jahrzehnte sind seit dem Fall der Mauer vergangen. Inzwischen wächst die zweite Generation von Deutschen heran, die die Teilung ihres Landes nicht erlebt haben. Allmählich sollte doch, wie es Willy Brandt formulierte, zusammengewachsen sein, was zusammengehört. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Osten scheint dem Westen noch immer ein Buch mit sieben Siegeln – ein dunkler Ort, in dem potenzielle Nazis leben, die sich nach einem starken Mann sehnen und mehrheitlich noch nicht in der Demokratie angekommen sind – wie einst der Ostbeauftragte der Bundesregierung diagnostizierte.

Allein, dass es dieses Amt gibt, spricht Bände über den traurigen Seelen- und Gemütszustand des vereinigten Deutschland, und Katja Hoyer zitiert nicht nur diesen Ostbeauftragten, Marco Wanderwitz, sondern liefert unzählige weitere Beispiele als Beleg dafür, was in den letzten dreissig Jahren alles falsch gelaufen ist. Und aller Voraussicht nach auch weiter falsch laufen wird.

Anschaulich schildert Hoyer, dass eine Mehrheit der DDR-Bürger sogar stolz waren auf ihren Staat.

Hoyer ist ein Kind der DDR, doch war sie gerade vier Jahre alt, als das Land aus der Geschichte verschwand. Heute lebt und forscht sie in Grossbritannien, und diese Kombination aus Vertrautheit und Distanz ist a wahrscheinlich, die sie dafür prädestiniert, eine Geschichte des deutschen «Arbeiter- und Bauernstaates» zu schreiben. Dass sie das auf Englisch getan hat, ist einerseits bestürzend, andererseits aber auch nicht unbedingt überraschend.

Entzauberte Mythen

Denn das westliche Deutschland hat sich nie besonders für diesen anderen Staat interessiert. Besonders nach der Wende gab es den unausgesprochenen Wunsch, ihn unter der Rubrik «deutsche Diktaturen» zu entsorgen – unheimlich, unverzeihlich, jedoch ganz weit weg. Vor allem aber sind wir Westdeutsche mal nicht schuld, an Stasi und so. Und wenn schon «Vogelschiss der Geschichte», dann trifft das wohl auf das kurze Experiment mit dem Kommunismus auf deutschem Boden zu, nicht wahr?

Diesen Zahn zieht Hoyer schnell. Die DDR existierte 41 Jahre und damit länger als die Periode vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik bis zu Nazidiktatur und Zweitem Weltkrieg. Auch andere bequeme Mythen entzaubert sie, wie etwa den von der Stasi-Diktatur, die sechzehn Millionen Menschen gegen ihren Willen in einem riesigen Straflager einpferchte und unterdrückte. Die meisten lebten ein weitgehend ungestörtes Leben.

Anschaulich schildert Hoyer, dass eine Mehrheit der DDR-Bürger sogar stolz waren auf ihren Staat. Sie genossen den höchsten Lebensstandard im Ostblock, ihre Sportler dominierten Weltmeisterschaften und Olympische Spiele (nicht nur dank Doping), die DDR eröffnete Arbeitern Bildung, hatte die höchste Frauenerwerbsquote in Europa und Rundumkinderbetreuung. Wohnung, Arbeitsplatz und medizinische Versorgung waren garantiert. Dazu kamen kleine Freuden im Alltag: Urlaub an der Ostsee oder mit dem Trabi an den Plattensee, Grillabende mit Freunden auf der Datsche, ein reiches Kulturangebot – von Brechts Berliner Ensemble bis zum Karat-Konzert.

Hoyer beginnt ihre Geschichte mit der Flucht der KPD-Führung vor den Nationalsozialisten nach Moskau. Nur zwei von neun Politbüro-Mitgliedern überlebten Stalins Säuberungen. Sie betraute der Diktator mit dem Aufbau des neuen Staats: Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck. Von Anfang an hatte die DDR schlechtere Startbedingungen als die Bundesrepublik. Sie musste mehr Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten unterbringen, ihr wurden mehr zerstörerische Reparationen aufgebürdet, sie litt unter Enteignungen, Kollektivierungen und Verstaatlichungen.

Die Wende kam mit dem Mauerbau – der übrigens trotz aller öffentlichen Proteste vom Westen insgeheim begrüsst wurde. Denn er stoppte den Aderlass von Facharbeitern und Intellektuellen aus der DDR, der ein derartiges Ausmass erreicht hatte, dass er die Stabilität des Regimes und damit auch der europäischen Nachkriegsordnung bedrohte. Mit der Mauer begann denn auch der wirtschaftliche Aufschwung des zweiten deutschen Staates.

Symbole des neuen Selbstbewusstseins waren die Botschaften, die Ostberlin nun in aller Welt eröffnete, der Berliner Fernsehturm und nicht zuletzt Jürgen Sparwassers Tor 1974 gegen die westdeutsche Fussball-Nationalmannschaft. Doch in den 1980ern stiess das kommunistische System an seine ökonomischen Grenzen und musste mit einem Milliardenkredit aus Bonn gerettet werden – eingefädelt ausgerechnet vom Kalten Krieger Franz-Josef Strauss.

Als es zu Ende ging, fiel die DDR der Bundesrepublik wie ein überreifer Apfel in den Schoss. Jeder Versuch, einen eigenen zweiten deutschen Staat zu retten, scheiterte. Was wirklich ablief, sagte der Buchhalter der Wiedervereinigung, Wolfgang Schäuble: «Hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt», teilte er den neuen Mitbürgern mit. «Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Lasst uns von der Voraussetzung ausgehen, dass ihr vierzig Jahre lang von beidem ausgeschlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.» – Herablassender und brutaler hätte man es nicht sagen können. Und da wundert sich der Westen, warum der Osten immer noch nicht spurt.

Dieser Text erschien erstmals am 26. Juli 2023.