Deutsche Medien und Politiker sind wieder einmal «empört» – von der Frankfurter Rundschau über den Spiegel bis zur grünen Familienministerin Lisa Paus. Die Empörung gilt der Alternative für Deutschland (AfD) und ihrer Bundesvorsitzenden Alice Weidel. In einem ARD-Sommerinterview hatte Weidel erklärt, warum sie am 9. Mai, dem «Siegestag» von Stalins Sowjetunion über das Hitlerreich, nicht an einem Empfang der russischen Botschaft in Berlin teilnahm. «Also, hier die Niederlage des eigenen Landes zu befeiern mit einer ehemaligen Besatzungsmacht, das ist etwas, wo ich für mich persönlich entschieden habe, auch mit der Fluchtgeschichte meines Vaters, daran nicht teilzunehmen», so Weidel. Ihr Vater war vor der Roten Armee westwärts -geflohen, wie Millionen anderer Deutscher.

Weidel wird seither «Geschichtsrevisionismus», also eine Umdeutung und Verharmlosung der Naziverbrechen, vorgeworfen. Ministerin Paus postete postwendend: #NiewiederFaschismus. Ähnlich klang es, als Ende Juni der thüringische AfD-Lokalpolitiker Robert Sesselmann zum Landrat gewählt wurde. Dass die AfD, wie die ARD schnappatmete, «erstmals ein kommunales Spitzenamt» eroberte, wurde als epochale «Zäsur», als «Dammbruch» und «Alarmsignal für die Demokratie» dargestellt. Der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes verstieg sich gar zu einer selbst für deutsche Verhältnisse bodenlosen Beleidigung der Wähler: «Wir sind bei ungefähr 20 Prozent braunem Bodensatz in der Bundesrepublik. Wenn man jetzt sieht, dass 53 Prozent die AfD gewählt haben, dann ist dazwischen noch eine Marge, die man erreichen kann.» Stimmen in Deutschland werden nun immer lauter, die AfD gar zu verbieten, da sie «nicht demokratisch» und «rechtsextrem» sei.

 

Ist die AfD eine Nazipartei?

Was ist von diesen Vorwürfen zu halten? Ist die AfD eine Nazipartei, die eingestampft gehört? Muss man ihre Exponenten einsperren? Muss man ihre Wähler auf den Mond schicken oder in der Psychiatrie entsorgen? Schon die Formulierung dieser Fragen zeigt, dass das Gerede vom drohenden Absturz der deutschen Demokratie Unsinn ist. Doch wir wollen es genauer und auch Skeptiker bei der Hand nehmen. Wofür eine Partei steht, steht in ihrem Parteiprogramm. Wofür die Nationalsozialisten standen, war von Anfang an bekannt, niemand kann sagen, er habe es nicht gewusst. Am 24. Februar 1920 – dreizehn Jahre vor der Machtergreifung – verkündete Adolf Hitler in München das 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Punkt eins forderte ein «Gross-Deutschland». Punkt zwei forderte die Aufhebung der Verträge von Versailles und St-Germain. Punkt drei forderte «Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungsüberschusses». Die Punkte vier bis acht forderten die Entrechtung und Vertreibung der deutschen Juden. Auch weitere Punkte zielten in unverhohlener Brutalität auf die jüdischen Staatsbürger, die nicht mehr Staatsbürger sein durften. «Wucherer», heisst es in Punkt 18, seien «mit dem Tode zu bestrafen». Punkt 23 schloss die Juden, die kein arisches Blut hätten und darum keine «Volksgenossen» seien, von jeder journalistischen und verlegerischen Tätigkeit aus.

Die Liste des angekündigten Grauens liesse sich verlängern – ganz zu schweigen von Hitlers Bestseller «Mein Kampf», der ebenfalls bereits Jahre vor 1933 erschien. Darin breitete der Führer in spe seinen Antisemitismus ebenso öffentlich aus wie seine Weltherrschaftspläne. Kurz: Die Hitlerpartei wollte die Demokratie zerstören, die Grundrechte schleifen, die Welt erobern und die Juden vernichten.

 

Aktivitäten des Geheimdienstes

Wofür eine Partei steht, steht in ihrem Parteiprogramm. Punkt eins des Grundsatzprogramms der AfD, verabschiedet am Bundesparteitag vom 30. April bis 1. Mai 2016 in Stuttgart, ist ein Bekenntnis zur «Demokratie» und zu den verfassungsmässigen «Grundwerten»: «Als freie Bürger treten wir ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowie soziale Marktwirtschaft, Föderalismus, Familienförderung und die gelebten Traditionen deutscher Kultur.» Als historische Bezugspunkte werden ausdrücklich die liberale bürgerliche Revolution von 1848 sowie das Epochenjahr 1989 genannt – nicht 1870/71 oder 1933. Weiter will die AfD «Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild», den Erhalt der europäischen Nationalstaaten in Frieden und guter Nachbarschaft, einen ständigen Sitz für Deutschland im Uno Sicherheitsrat, sichere Grenzen und in der Asylpolitik die Unterscheidung «zwischen politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen einerseits und irregulären Migranten andererseits». Auch dürfe es «keine direkte Einwanderung in die Sozialsysteme» geben. Das alles ist weder «braun» noch «rechtsextrem» noch «demokratiefeindlich». Es ist das Programm einer modernen liberalkonservativen Partei.

«Das ist schön und recht», hören wir die Kritiker einwenden, «aber das Programm ist nur ein Fetzen Papier. Was eine Partei ausmacht, ist ihr Personal. Und da gibt es bei der AfD schummrige Gestalten.» Zugegeben: In jeder Partei, besonders in neuen, trifft man auf mehr oder weniger zweifelhafte Figuren und Wirrköpfe. Das mag auch bei der AfD so sein. Aber sind diese Randgestalten repräsentativ? Nüchtern, fair betrachtet, muss man sagen: nein. Landratskandidat Sesselmann beispielsweise, dessen Wahl als Fanal des Untergangs der deutschen Demokratie gehypt wurde, warb für «Landschaft statt Windparks» und für den Ausstieg aus dem Euro. Nazi-Parolen sehen anders aus. Ihn wählten nicht sozial abgehängte Glatzen, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung.

 

Psychotrip ins Ungewisse

Und warum, wenn alles so harmlos ist, hat denn der Verfassungsschutz die AfD ins Visier genommen? Ist das nicht Beweis genug, dass die Mahner und Warner recht haben? Wieder lautet die nüchterne Antwort: Nein. Das Motiv für die Überwachung hat jüngst Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang persönlich offengelegt. Im Fernsehen sagte er: «Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken.» Der Inlandgeheimdienst als Vehikel der Parteipolitik und als Verhinderer des demokratischen Ideenwettbewerbs? Sind wir schon so weit? Der «Wandel des Verfassungsschutzes hin zu einer Art Haltungsamt» vollziehe sich bereits seit einigen Jahren und nicht nur im Umgang mit der AfD, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) trocken. Auch wer die amtlichen Corona-Massnahmen oder die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung kritisiere, könne zum «verfassungsschutzrelevanten Delegitimierer des Staates» erklärt und nachrichtendienstlich beobachtet werden, so die NZZ.

Angesichts dieser Zustände beschleicht einen der Verdacht, dass vielleicht gar nicht die AfD abnormal sein könnte, sondern vielmehr dieses Deutschland mit seinen politischen Höllenfahrtsfantasien. Könnte es sein, dass die Partei eine heimliche deutsche Urangst auslöst – die Angst der Deutschen vor sich selbst? Und könnte es sein, dass viele deutsche Politiker, die gegenüber der aufstrebenden AfD um ihre Macht und Pfründe fürchten, diese deutsche Urangst, dieses aus zwei Weltkriegen resultierende, durchaus noble Selbstmisstrauen vieler Deutscher («Nie wieder!») zum schnöden Zweck des Machterhalts ausbeuten, missbrauchen? Wenn ein Sesselmann in Sonneberg eine Wahl gewinnt oder Alice Weidel eine historisch aufschlussreiche Debatte anstösst, öffnet sich für sie die Büchse der Pandora, und sie riechen Pech und Schwefel und Völkermord.

Mit der realexistierenden AfD hätte das dann weniger zu tun als mit den Mühen der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Es scheint, dass die Partei bei ihren Landsleuten einen historischen Stress auslöst und sie auf einen Psychotrip ins Ungewisse treibt. So wäre es zu erklären, dass Dinge, die anderswo Alltag sind und sogar als Garantie einer demokratischen Staatsform gelten – der Nationalstaat, die ausgebauten Volksrechte, die Kritik an der Brüsseler EU-Bürokratie –, in der Bundesrepublik als Fanal des Untergangs gedeutet werden. Die Angst der Deutschen vor der AfD gründet in der Angst der Deutschen vor sich selbst, in einem deutschen Urmisstrauen in die eigene politische Urteilskraft. Diese Angst und dieses Misstrauen sind so etwas wie der rationale Kern der AfD-Verteufelung, so realitätsfremd und überzogen diese auch sein mag. Sie sind der Grund dafür, dass sich die Deutschen eigenhändig Fesseln anlegen und sich im Gefängnis des bundesrepublikanischen Nachkriegskonsenses einkerkern. Wer nur einen Millimeter davon abweicht, muss niedergemäht werden.

Vom Hochsitz ihrer aus historischer Schuld gedrechselten Moral zielen die Sittenwächter des Sagbaren auf alles, was nach rechts ausschert – auch wenn «rechts» mehr Demokratie, mehr Bürgernähe, mehr Rechtsstaatlichkeit heisst.

 

Normalität der erwachsenen Demokratie

Das ist die Ironie dieses Dramas der deutschen Seele: Die Urangst der Deutschen vor sich selbst, die sich in der Ausgrenzung der AfD Luft verschafft, verhindert, was sie zu schützen vor gibt – die Normalität einer gewissermassen erwachsenen Demokratie mit einer nach allen Seiten offenen und sportlichen Debattenkultur. Friedrich Merz versagt, Christian Lindner versagt, Robert Habeck versagt, Annalena Baerbock versagt, Olaf Scholz versagt – und trotzdem vertrauen viele Wähler (noch) nicht der AfD. Vor diesem Hintergrund könnte es den Deutschen vielleicht helfen, sich ihre historisch begründete Selbstangst zu nehmen und endlich zu einem normalen Staat zu werden, indem sie die AfD nicht länger dämonisch überhöhen, sondern als demokratisch gewählte Partei ernst nehmen. Nichts ist so entzaubernd wie der Alltag.