Die (etablierte) Politik baut Brandmauern, und der Wähler reisst sie fröhlich ein.

Wer sich den Siegeszug der «Populisten» in Deutschland erklären will, findet in den Reaktionen auf die Europawahl reichlich Stoff und Belege. Während Geert Wilders in den Niederlanden mit seiner Ankündigung des «strengsten Asylregimes aller Zeiten» punkten konnte, halten es deutsche Konservative für eine Tugend, daraus keine Schlüsse zu ziehen und mit besonderer Härte jegliches Signal zu verweigern, die Botschaft der erstarkenden Konkurrenz verstanden zu haben.

Trotzige Lernverweigerung vom Feinsten, wie es der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (CSU) bereits im Vorfeld der Wahlen («Table Briefings», 16. Mai 2024) klarmachte: In den Niederlanden forme die liberale Partei von Mark Rutte ein Bündnis mit dem Rechtsradikalen Geert Wilders, ohne sich dafür gross rechtfertigen zu müssen. Die europäischen Christdemokraten schlössen für sich hingegen jede Zusammenarbeit mit AfD, FPÖ, Viktor Orbán oder Marine Le Pen aus. «Unsere Brandmauer steht, und sie steht vielleicht stärker als bei anderen Parteien.»

Von wegen!

Diese Tonlage – man muss es so deutlich sagen – ist ein deutscher Sonderweg. Während in den europäischen Nachbarländern von Skandinavien bis Frankreich, Österreich und Italien die Einbeziehung der gewählten «Populisten» in das demokratische System zur Befriedung der Gesellschaft und nicht selten zu deren Prüfung auf Alltagstauglichkeit beiträgt, pflegt die deutsche Politik eine Art politisches Reinheitsgebot, das im Kern darauf hinausläuft, relevante Wählergruppen mit einer erstaunlich still hingenommenen absolutistisch klingenden Ansage von der Willensbildung auszuschliessen.

So weitete CDU-Chef Friedrich Merz etwa am Tag nach der Europawahl in der ARD die in den ostdeutschen Ländern bereits erkennbar bröckelnde «Brandmauer» zusätzlich auf das zu den Wahlgewinnern zählende Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) aus: «Das ist völlig klar, das haben wir auch immer gesagt – wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen.»

Für Sahra Wagenknecht gelte beides: «Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.» Die Wahrheit ist: Wagenknecht mag eine «schillernde» politische Vergangenheit haben, aber ihr BSW ist weder in die eine noch in die andere Richtung «extrem» oder verliesse gar die Grenzen des Verfassungsbogens.

Was hier zutage tritt, ist ein seltsamer politischer Dünkel – um nicht zu sagen: Ekel – vor dem Wählervotum, das zu rezensieren sich für Politiker nur in sehr engen Grenzen ziemen sollte.

Selbstverständlich sind im parteipolitischen Wettstreit unterschiedliche Meinungen unterwegs und völlig berechtigt, aber der Souverän ist nur einmal der Wähler. Er gibt den Politikern ein Mandat oder nicht und muss sich nicht von Leuten, die er auch noch (ganz ordentlich) bezahlt, erklären lassen, wer für die Teilnahme an der Verwaltung des Gemeinwesens nicht in Frage kommt. Der Wähler könnte sich versucht fühlen, seinen Willen beim nächsten Urnengang noch drastischer zu formulieren.

Oder wie es der langjährige Stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges im «Hauptstadt-Briefing» von Media Pioneer ausdrückt: «Die Zeit der schwarzen Diktate geht im blauen Osten zu Ende.»

Angesichts der Tatsache, dass die Europawahl in einigen ostdeutschen Ländern eine Regierung aus AfD und BSW mit einer Mehrheit ausstattete, wäre Demut der etablierten Parteien eigentlich angebrachter als herablassende Ausgrenzungsversuche.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.