Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Onlineportal Global Bridge.
Wie bereits im vergangenen September vorhergesagt, verlor die ukrainische Sommeroffensive Ende Oktober aufgrund der hohen Personalverluste an Schwung, und die ukrainische Armee war gezwungen, die Intensität der Kampfhandlungen zu senken (1). Seit Anfang November müssen die Ukrainer nun Geländeverluste hinnehmen, nachdem die Initiative an die Russen übergegangen ist. Mit dem Schwinden der militärischen Handlungsoptionen der Ukraine droht dem Westen nun der Bedeutungsverlust.
Bezeichnend ist die Entwicklung der militärischen Lage rund um die nordwestlich von Donezk gelegene Stadt Awdijiwka (Russisch: Awdejewka). Die jahrelang zwischen den Fronten gelegene Wasserfiltrierstation (WFS) der Woda Donbassa bei Kaschtanowe ist in den letzten Wochen in die Hand der Russen übergegangen, inklusive der Wald westlich davon, aus welchem die ukrainischen Regierungstruppen verschiedene Male die Station selbst und deren Mitarbeiter beschossen hatten (2). Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Russen den Vorort Wynohradnyky, wo die Ukrainer acht Jahre lang Zeit gehabt hatten, sich zur Verteidigung einzurichten, einnahmen. Auch erwähnenswert ist die Einnahme des Abraumhügels nordöstlich der Koksfabrik von Awdijiwka, die wohl zu einer eigentlichen Festung ausgebaut wurde.
Karte Lage im Raum Awdijiwka; AZ = Angriffsziele beidseits Orliwka
Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser.
Die Vorstösse der Russen zeigen, was ihre Absicht in den nächsten Tagen ist: Sie legen es darauf an, die Nachschubstrassen zur Koksfabrik unter ihre Kontrolle zu bringen, nachdem sie schon vor geraumer Zeit an die Eisenbahnlinie aus Nordwesten vorgerückt waren. Von ihren taktischen Angriffszielen, den Strassen nördlich und südöstlich von Orliwka/Orlowka, sind sie noch rund drei beziehungsweise zwei Kilometer entfernt. Schon bald dürften die Russen in der Lage sein, diese Strassen auch mit Flachbahnwaffen von Panzern und Schützenpanzern aus zu beschiessen und den Nachschub in die Koksfabrik so zum Erliegen zu bringen. Ob die Baumreihen, welche die Felder in diesem flachen Gelände voneinander abtrennen, im Winterhalbjahr als Sichtschutz dienen, ist nur durch einen Eindruck vor Ort abzuklären. Natürlich werden die Ukrainer nun alle verfügbaren Reserven nach Orliwka verlegen, was die Russen kurzfristig vielleicht für Vorstösse andernorts nutzen. Es kann folglich noch dauern, bis die russischen Truppen auf Orliwka vorrücken. Grund zur Eile gibt es nicht.
Ein weiterer bemerkenswerter taktischer Erfolg der Russen ist die Einnahme der Ortschaft Marjinka westlich des Rajon Petrowskyj der Stadt Donezk, der jahrelang vom Gebiet unter Kontrolle der ukrainischen Armee aus mit Artillerie beschossen worden war (3). Auch hier hatten die Ukrainer jahrelang Befestigungen aus Beton gebaut. Es dürfte das Ziel der Russen in diesem Abschnitt sein, so weit vorzurücken, dass der Rajon Petrowskyj mit den weitverbreitetsten Artilleriegeschützen und mit schweren Minenwerfern (Mörsern) nicht mehr beschossen werden kann, das heisst sicher auf zehn Kilometer Distanz.
Karte: Stoss der RUAF an den westlichen Ortsrand von Marjinka
Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser.
In Awdijiwka und in Marjinka haben die Russen gezeigt, dass sie in der Lage sind, auch festungsartig ausgebaute Überreste von Siedlungen einzunehmen. Es geht auch ohne Kadyrows Nationalgarde und ohne die Gruppe Wagner.
Im Raum Bachmut/Artemowsk haben die Russen Teile des Geländes, das die Ukrainer im Verlauf ihrer Sommeroffensive eingenommen hatten, zurückerobert. Und auch östlich von Kupjansk sind die russischen Truppen im Vormarsch. Das sind alles Erfolge taktischen Ausmasses, die aber die Ukrainer dazu zwingen, ständig Reserven an die Brennpunkte des Kampfes zu werfen, und sie daran hindern, neu formierte Truppen in Ruhe gründlich auszubilden.
Im Raum südlich von Orichiw in der Oblast Saporischschja, wo die Ukrainer im Rahmen ihrer Sommeroffensive am weitesten vorgedrungen waren, haben die Russen wesentliche Teile des verlorenen Geländes wieder zurückerobert.
Karte: Geländegewinne der RUAF südlich Orichiw
Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser.
Das wird es ihnen erlauben, die vordersten Stellungen der ersten von vier Verteidigungslinien wieder zu besetzen und instand zu setzen. Ob die Ukrainer in der Lage sind, andernorts rasch einen neuen Angriffs-Schwerpunkt zu bilden, ist fraglich. Zu stark ist in diesem Krieg die Wirkung von Drohnen auf Truppen in Bewegung.
Nichts gelernt
Anstatt sich auf einen ausgewählten Abschnitt der Front zu konzentrieren und dort ein Angriffs-Schwergewicht zu bilden, hatten die Ukrainer im Juni dieses Jahres an mehreren, weit auseinanderliegenden Abschnitten angegriffen, und es war ihnen nur gerade in einem einzigen Abschnitt, nämlich jenem von Orichiw, gelungen, die russische Sicherung vor den eigentlichen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Nun werden sie auch von dort zurückgeworfen.
Aber die Ukrainer haben nichts dazugelernt, sondern setzten im Oktober bei Cherson Teile von vier Marine-Infanteriebrigaden auf das südliche Ufer des Dnjepr über, zwischen der Antonow-Brücke und dem mittlerweile zerstörten Damm von Nowa Kachowka, auf fünfzig Kilometern Frontbreite, ohne erkennbare Schwerpunktbildung und ohne die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen (4). Es stellt sich die Frage nach der Absicht, denn ein Stoss mit mechanisierten Kräften in die Tiefe würde verlangen, dass mehrere leistungsfähige und sichere Übergänge über den Fluss errichtet und genügend grosse Brückenköpfe erobert werden, in denen mechanisierte Truppen bereitgestellt werden können. Möglicherweise hatten die Ukrainer und ihre britischen Berater, die dort aktiv sein sollen, gehofft, in diesem Abschnitt leichtes Spiel zu haben, und dabei ihren Gegner erneut unterschätzt.
Ob all die seit Jahren umkämpften und jetzt komplett verwüsteten Ortschaften je wiederaufgebaut werden, ist fraglich. Wahrscheinlich ist eher eine Entwicklung wie in Berg-Karabach, wo in den Jahren nach 1994 entlang der Front ein unbewohnter und wüster Streifen verblieben war, in welchem sich die Konfliktparteien bis zum Herbst 2020 einen Kleinkrieg lieferten.
Den Mund zu voll genommen
Der Grund für das Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive liegt wohl weniger in mangelnden westlichen Waffenlieferungen, sondern eher in ukrainischer Selbstüberschätzung, und es wird immer klarer, dass der ehemalige Präsidentenberater Arestowytsch den Mund zu voll genommen hatte, als er 2019 dem Westen einen grossen ukrainischen Sieg in einem grossen Krieg versprach (5). Realisiert hat die Ukraine bis dato nur Letzteres. Die Option, den Krieg einfach «einzufrieren», hat Selenskyj nun nicht mehr, seit die Russen in der Gegenoffensive begriffen sind.
Da ist es nur logisch, dass westliche Hilfe im Wesentlichen nur noch verbal geleistet wird. Um die bröckelnde Front zu retten, malt man in Washington, Brüssel und Berlin jetzt den Teufel an die Wand und behauptet, die Russen würden sich anschicken, nun ganz Europa anzugreifen. Und man bereitet Milliardeninvestitionen vor, um Russland daran zu hindern, was es nicht will und nicht kann: Europa zu überrollen. Das liegt nicht in der Macht der russischen Armee. Wenn aber der britische Aussenminister David Cameron nach Washington pilgert, um der US-Politik die Aufwendungen für den Krieg in der Ukraine als gute Investition zu verkaufen, dann zeigt er nur, dass es zumindest den Briten nie um die Ukraine als solche ging, sondern ganz allgemein um einen Krieg gegen Russland (6). Für Grossbritannien ist die aktuelle Lage besonders peinlich, denn sie zeigt, dass britische Sicherheitsgarantien wie jene vom Budapester OSZE-Gipfel 1994 und britische Militärhilfe nicht viel wert sind. Damals hatte Grossbritannien zusammen mit Russland und den USA der Ukraine eine Sicherheitsgarantie versprochen, wenn sie ihre Kernwaffen aus Sowjetbeständen an Russland abtrete.
Panik in westlichen Hauptstädten?
Erneut drohte die Administration Biden mit der Entsendung von US-Truppen in die Ukraine, sollte der Kongress den neuen Finanz- und Waffenhilfen für die Ukraine nicht zustimmen (7). Da stellen sich aber zwei Fragen: Wie lange kann Biden Krieg gegen Russland führen ohne die Zustimmung des Kongresses? (8) Und was würden US-amerikanische (und britische) Truppen erreichen, was kriegserfahrene ukrainische nicht konnten?
Militärische Handlungsoptionen lassen sich wohl nicht mehr realisieren. Nun geht die Hoffnung zurück auf wirtschaftliche Mittel, und man versucht sich damit zu trösten, dass Russlands Wirtschaft ohnehin bald zusammenbreche und ein Aufstand in Russland den ungeliebten Wladimir Putin aus dem Kreml fegen werde. Die Beobachtungen der letzten Monate und Jahre geben jedoch keinen Anlass zur Hoffnung, dass dieses Szenario eintreten könnte. Im Westen hingegen könnte die Erkenntnis, dass parallel der Krieg in der Ukraine, die Verluste wegen der wechselseitigen Sanktionen, der Wiederaufbau der Ukraine und die Politik der offenen Arme gegenüber ukrainischen Flüchtlingen nicht finanzierbar sind, ein politisches Erdbeben auslösen. Immerhin aber hat die Aufnahme immer neuer Schulden durch westliche Staaten nun einen guten Grund, nämlich den Krieg gegen Russland. Die wahren Gründe sind wohl andere: Die Wahrung der globalen Hegemonie ist teurer geworden.
Für den Westen stellt sich nun die Frage, wie es weitergehen soll. Eine Verhandlungsstrategie hat er bis dato nicht kommuniziert, und er kann sich einen Platz am Verhandlungstisch nur so lange sichern, als er Waffen liefert. Ist einmal ein Waffenstillstand beschlossen, ist der Westen weg vom Fenster. Austin, Cameron, Baerbock und Co. brauchen eine Fortsetzung des Kriegs, damit ihre Hilflosigkeit nicht offen zutage tritt.
Putin hingegen kann die westliche Panik ausnützen und so tun, als wolle er die ganze Ukraine besetzen, wenn Selenskyj erst einmal seine letzten Reserven verbraten hat. Danach kann er als Kompromiss eine Neutralität der Ukraine anbieten, mit der er möglicherweise schon im Frühjahr 2022 zufrieden gewesen wäre. Jetzt muss er es nur noch so einrichten, dass der Westen der Weltöffentlichkeit einen solchen Kompromiss als seinen eigenen Sieg verkaufen kann. Westlichen Sicherheitsgarantien wird die Ukraine aber wohl nicht erneut vertrauen – mit gutem Grund.
Anmerkungen:
Militärexperte Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war.
Europa muss endlich aufwachen und die US-Angelsachsen rausschmeißen. Fast alle Regierungen Europas stehen unter Einfluss Washingtons. Man schadet eher der eigenen Bevölkerung, als das man Washington die Tür zeigt. Die Bevölkerungen Europas dürfen sich das nicht mehr gefallen lassen. Es ist besser, ein positives Verhältnis mit Russland zu pflegen, als dumpfbackig Washington hinterher zu laufen. Selenskijs Ex-Berater Arestowitsch redet nun anders.
Immer die ach so böse USA und Nato. Dass China und Russland die Welt ins Chaos stürzen mit ihren Ambitionen ist Euch also noch so gut und recht. Aber die Freiheiten im Westen, die geniesst ihr dann sehr gerne, um nicht zu vergessen, die haben wir den Amis zu verdanken. Schön blöd, nicht wahr?
Es zeichnet sich immer mehr ab, dass die Ukraine bis und mit dem letzten Ukrainer vernichtet werden muss, analog dem Vorbild Gaza. Anschliessend kann man das Land unter sich aufteilen und es gibt wieder Ruhe im Osten.