Meine Sommerferien verbringe ich mit der Familie meistens in den Bergen, am Lago di Lugano und, wenn die Zeit reicht, am Meer. In früheren Jahren fuhren wir an die Adria, Rimini, die Stadt Federico Fellinis, oder an die ligurische Küste, die mir fast noch besser gefällt als die Riviera in Frankreich, weil Ligurien etwas verwitterter, authentischer, aus der Zeit gefallen scheint.

Diesmal aber besuchen wir zum zweiten Mal die Insel Korsika, die ich vorher nur als den Herkunftsort Napoleons kannte und als Schauplatz eines Abenteuers des Comic-Galliers Asterix. Unauslöschlich eingeprägt hat sich mir das Bild der von Uderzo gezeichneten Korsen. Wenn sie einen anschauten, stolz, asketisch, meistens grimmig, zuckten aus ihren Augen Blitze.

Auf Korsika, mit Blick über den Golf auf die Hauptstadt Ajaccio, in der noch das Geburtshaus Napoleons steht, heute ein Museum, lebt seit vielen Jahren mit seiner Frau der Schweizer Medienunternehmer Thomas Trüb. Der 75-jährige Luzerner war Journalist, unter anderem bei der Bilanz, machte sich dann selbständig und gründete die Wirtschaftszeitschrift Cash, ehe er für den Ringier-Verlag in Asien, Afrika und den USA erfolgreich wirkte.

Auf der Insel hat sich Trüb eine prächtige Oase geschaffen, mit einem privaten Tierpark, zu dem neben Geissen, Schweinen und Lamas neuerdings zwei üppig gefiederte Reiher und ein Dromedar gehören. Letzteres, ein äusserst liebenswürdiges Tier, ist nach Aussage des Hausherrn in der Lage, innert fünfzehn Minuten 200 Liter Wasser aufzunehmen.

Trüb ist, vermute ich, ein klassischer Vertreter der 68er Generation, in der Jugend sicher links, Sozialist, kritisch gegenüber Autoritäten aller Art, später dann hartnäckig wühlender Journalist, bald Unternehmer, innovativer Zeitungsmacher und -erfinder, der auch mit dem Kapitalismus seinen Frieden schloss. Ich schätze und respektiere ihn enorm.

Vor mir liegt ein Buch: «Das Jahr, in dem die Welt endete». So untertitelte der australische Journalist und Autor Paul Ham vor zehn Jahren seine wirklich toll geschriebene Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs «1914». Nach wie vor rätselt man, warum sich Europa damals sehenden Auges in diesen fürchterlichen Abgrund stürzte.

Wer will, kann darin jede Menge Parallelen zu heute erkennen. Vor allem die sture Weigerung der Grossmächte, die jeweils andere Seite zu verstehen und miteinander ins Gespräch zu kommen, um die Krise zu stoppen, führte zu einem Klima wechselseitiger Paranoia, die den grossen Krieg fast unausweichlich scheinen liess.

Trotzdem sind Thomas und ich uns bei den abendlichen Diskussionen einig, dass der Konflikt um die Ukraine nicht nach dem Drehbuch der Balkankrise vor über 110 Jahren in einen neuerlichen Weltenbrand münden werde. Wir sind beide überzeugt, dass Putin, trotz steigendem US-Druck, nicht so verrückt sein wird, taktische Atomwaffen einzusetzen.

Vor dem Ersten Weltkrieg sassen die grössten Kriegstreiber in den Redaktionen.

Natürlich gibt es für unseren relativen Optimismus keinen objektiven Grund. Aber im Unterschied zu damals gibt es vielleicht so etwas wie einen kollektiven Welt-Speicher an historischer Erinnerung. Die grossen Zivilisationen Europa, China, Russland haben im letzten Jahrhundert Schlimmes durchgemacht. Niemand will zurück in diese Hölle.

Gewiss, es gibt auch das kollektive Vergessen. Doch meines Wissens noch nie in der Geschichte haben gescheiterte Grossmächte, von denen es in Europa nur so wimmelt, zwei Mal ihr Glück versucht. Russland und China wiederum wollen nach den Schrecken von Kommunismus und Kolonialismus wohl vor allem Wohlstand und Sicherheit.

Vor dem Ersten Weltkrieg sassen die grössten Kriegstreiber in den Redaktionen. Die Massenmedien spielten schon damals eine finstere Rolle. Sie schürten Hass und Selbstgerechtigkeit, machten Partner zu Gegnern, Gegner zu Feinden. Wer sich für Frieden und Verständigung einsetzte, galt als «Verräter», als «fünfte Kolonne».

Gegenüber Ungarns Premier Viktor Orbán bemerkte anlässlich von dessen Besuch Chinas Staatschef Xi Jinping, er halte einen militärischen Sieg der Ukraine gegen Russland für unmöglich. Gleichzeitig sei der Krieg den Chinesen sehr unangenehm. Russland sei zwar Partner, aber man wolle deswegen keinen Konflikt mit den USA.

Nichts also ist in den Augen Xis sinnloser als die Weiterführung eines Kriegs, der aus Sicht der Ukraine nicht mehr zu gewinnen ist. Die Kriegsbefürworter und Waffenbegeisterten im Westen scheinen zu übersehen, nicht sehen zu wollen, dass ihre Strategie Abertausenden von jungen ukrainischen Soldaten das Leben kostet.

Xis Einsicht verschliessen sich auf westlicher Seite alle, die unbedingt recht haben wollen mit ihrer Feststellung, dass Putin ein übler Schurke und Aggressor ist, weshalb er zwingend zu stoppen sei, ehe er andere Länder überfalle. Darum dürfe man mit Putin nicht verhandeln. Diplomatie, heisst es, sei schwächliches «Appeasement».

Peter Hams Buch über den Ersten Weltkrieg ruft in Erinnerung, dass sich schon damals die Beteiligten unheimlich sicher, felsenfest davon überzeugt waren, die jeweils anderen genau durchschaut zu haben, indem sie ihnen die schlechtesten Motive unterstellten. Mehrfach betont der Autor, wie falsch sie alle damit lagen.

Die Weltgeschichte bleibt eine blutige Chronik von Missverständnissen. Gerade in kriegerischen Zeiten, wenn extreme Gefühle lodern, ist das Risiko, sich zu irren, besonders gross. Und interessanterweise scheinen die Journalisten ausgerechnet dann, wenn Abstand und Hinterfragung am nötigsten wären, am wenigsten bereit dazu.

Thomas erzählt mir von Korsikas Freiheitsheld Pasquale Paoli, der im 18. Jahrhundert, vor der amerikanischen und der Französischen Revolution, die demokratischste Verfassung seiner Zeit begründete, Frauenwahlrecht inbegriffen. Zwar zertrümmerten die Franzosen Paolis Staat, doch der Korse überlebte, hoch angesehen, im Londoner Exil.

Die schöne, beeindruckende Geschichte des korsischen Staatsmanns, den Goethe besuchte und den die amerikanischen Freiheitskämpfer um Washington und Jefferson verehrten, bestärkt irgendwie unseren Glauben an das Gute im Menschen, das sich auf wundersame Weise am Ende eben doch, immer wieder, gegen alle Widrigkeiten durchsetzt.