Wer hätte gedacht, dass Ihre Bemühungen um Ordnung und Anstand im Jahr 2023 zu einem geflügelten Wort würden, ausgerechnet in Italien: «Manco fossi la signorina Rottenmeier!», «Als ob ich Fräulein Rottenmeier wäre!», rief Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin, mehrmals ihren lieben Parteikollegen zu, nachdem sie feststellen musste, dass sie immer die Einzige zu sein scheint, die nach schwierigen Momenten wie Erdbeben, Tod von Berlusconi, Emigrantendrama, Budget und so weiter für Ordnung und Disziplin schaut. Alle haben sofort verstanden. Aha, «Heidi» von Johanna Spyri.
Dass die Meloni ausgerechnet auf Sie, Fräulein Rottenmeier, gekommen ist, können Sie als Kompliment auffassen. Bis jetzt hat man sich in Italien beim Zugriff auf mythische Figuren vorwiegend bei den Griechen und den alten Römern bedient, aus der Schweiz waren nur Wilhelm Tell und Henri Dunant bekannt oder eben Heidi. Dass nun ausgerechnet Sie, die Haushälterin der Familie Sesemann, zu neuem Startum avancieren, hat viel mit der heutigen Situation zu tun. Es herrscht ein wenig Durcheinander und Disziplinlosigkeit. Ich denke, bei uns könnte Bundesrätin Karin Keller-Sutter manchmal auch ausrufen: «Als ob ich Fräulein Rottenmeier wäre!» Sicher war es so während der Credit-Suisse-Krise.
Ich selbst wünsche mir auch immer öfter ein Fräulein Rottenmeier her, zum Beispiel, wenn ich in einem Zug sitze, wo gleichzeitig Kinder herumrennen und lärmen und die lieben Eltern sie machen lassen. Da möchte man am liebsten im gleichen Stil durchgreifen wie Sie, wenn Sie die Heidi, die Sie nur Adelheid nannten, ermahnten: «Adelheid, ich muss schon sehr bitten: Im Hause Sesemann spricht man nicht in diesem Ton mit Erwachsenen.»
Heute würde man die hyperaktive Heidi vermutlich mit Ritalin vollstopfen, oder man liesse sie einfach gewähren. Kein Wunder, sind Sie wieder angesagt. Auch bei uns!
Mit freundlichen Grüssen
Peter Rothenbühler
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