Der menschliche Verstand vermag den Zusammenhang der Ursachen aller Erscheinungen nicht zu begreifen, aber der Trieb, diese Ursachen zu erforschen, schlummert in des Menschen Seele.

Leo Tolstoi, «Krieg und Frieden»

 

Die Sonne brennt. In Zürich feiern über zwei Millionen Menschen. Gleichzeitig haben wir einen Krieg in der Ukraine. Vermutlich ist es heute am vernünftigsten, sich dem Wahnsinn der Politik in der Party zu entziehen. Das ist nicht nur eine Pointe. Oft ist es so, dass die Leute, die sich damit beschäftigen, ihren überschaubaren Alltag zu meistern, dem Allgemeinwohl nützlicher sind als alle anderen, die das Weltgeschehen krampfhaft in eine bestimmte Richtung lenken wollen.

Das ist übrigens einer der zentralen Gedanken in Leo Tolstois Monumentalwerk «Krieg und Frieden». Der Mensch ist nicht in der Lage, die Gesamtheit aller Ursachen eines bestimmten historischen Geschehens zu überblicken, also sollte er auch nicht so tun. Sein beschränkter Verstand forscht zwar fieberhaft nach Ursachen, bleibt dann aber meistens am Naheliegendsten und für ihn Verlockendsten hängen. Deshalb sollten wir unserem Urteil immer misstrauen. Vielleicht liegen wir falsch. Demut statt Überheblichkeit.

Heute wollen sie uns einreden, dass der Krieg in der Ukraine nur eine Ursache habe: Putin, die Verkörperung des Bösen. Umgekehrt gilt: Wenn Putin weg ist, kommt alles gut. Diese erstaunlich primitive und leicht zu widerlegende Theorie ist die Grundlage unserer Aussenpolitik. Deshalb liefern die Amerikaner, weil ihnen die regulären Granaten ausgehen, bereits Streubomben an Selenskyj. Wo bleibt hier eigentlich der Aufschrei der Linken und Grünen, die sich früher immer für die Ächtung dieser schrecklichen, auch Kinder zerfetzenden Waffe eingesetzt haben?

Die Hitze moralischer Empörung mag vorübergehend wärmen, aber sie ist ein schlechter Kompass.

Aber auch die Schweiz ringt mit sich selbst. Die Neutralität ist nicht mehr selbstverständlich. Fast täglich reiten die Medien, allen voran die Neue Zürcher Zeitung, Kampagnen gegen die schweizerische Tradition der friedlichen Nichteinmischung, des konsequenten Verzichts auf Parteinahme. Doch die Verwirrung ist gross, denn die Neutralitätsbestatter reden sich ein, die Schweiz sei auch dann noch neutral, wenn sie bei der Nato mitmache und Selenskyj Waffen schicke. Hier braucht es Klärung. Erfreulich immerhin, dass bei uns so leidenschaftlich darüber gestritten wird.

Viel vernagelter und verkachelter ist die Lage im grössten und wichtigsten EU-Staat, in Deutschland. Die Regierung duckt sich im Windschatten der Amerikaner. Wie eine Bleiplatte drückt der Moralismus. Viele trauen sich gar nicht, ihre Meinung zu sagen. Hinter vorgehaltener Hand hört man viel Skepsis gegenüber dem aussenpolitischen Kurs. Die Medien aber mauern, Meinungsbeton überall. Als der eminente Diplomat Wolfgang Ischinger kürzlich laut über konkrete Massnahmen zu einem Waffenstillstand nachdachte, tobte ihm ein Sturm entgegen.

Doch die fürchterliche Meinungswut der deutschen Rechthaber und Bescheidwisser ist kein Zeichen der Stärke. Im Gegenteil. Den meisten ist klar, dass wir über diesen Krieg hinausdenken müssen. Wie beenden wir das Gemetzel? Wie kann der Ukraine wirklich geholfen werden? Wie binden wir Russland wieder ein? Die Hoffnung, Putin lasse sich wegbomben oder kaputtsanktionieren, erfüllte sich nicht. Vielen EU-Bürgern dämmert erst der drohende Abgrund einer ukrainischen EU-Mitgliedschaft. Was viele noch nicht wissen: Ein Beitritt würde alle EU-Mitglieder inklusive Griechenland automatisch zu Nettozahlern für Selenskyjs Regime machen.

Die Vernunft kehrt zurück. Langsam, aber sicher. Wenn Wirklichkeit und Ideologie zusammenprallen, gewinnt die Wirklichkeit. US-Präsident Biden steht beim Nato-Gipfel auf die Bremse. Die Ukraine sei noch nicht bereit, es gebe Zweifel an Selenskyjs Demokratie. Auch anderswo verfliegen die Illusionen. In Deutschland entzaubern sich gerade die Grünen. Die verteufelte AfD legt in Umfragen zu. Immer mehr Deutsche haben die Nase voll von geschniegelten Talkshow-Strebern. Sie setzen mehr Hoffnung auf die schrill verleumdeten «Populisten» in schlechtsitzenden Anzügen, aber mit ordentlicher Berufsausbildung. Weniger Schein, mehr Sein. Mal sehen.

Früher oder später wird mit Blick auf den Ukraine-Konflikt der Realismus siegen. Die landläufigen Behauptungen und Theorien greifen zu kurz, viel zu kurz. Dieser Krieg hat eine lange Vorgeschichte. Vielleicht begann sie vor hundert Jahren, als Lenin die Ukraine als künstliches Bollwerk gegen die Moskauer Nationalisten aus dem russischen Riesenreich herausbrach. Möglicherweise gaben die Amerikaner mit der für die Russen demütigenden Nato-Ostausdehnung den Anstoss. Oder war es Putin, der beim Einmarsch überheblich auf die Schwäche des «woken» Westens spekulierte?

Die Antwort lautet: Alles von dem und noch viel mehr. Fehl gehen Versuche, die Gesamtheit aller Ursachen auf nur eine einzudampfen. Historische Prozesse ergeben sich aus der Summe ungezählter Kräfte und Gegenkräfte, auf die selbst der mächtigste Diktator Rücksicht nehmen muss. Die Putins, die Napoleons oder Cäsars, die Giganten, die Helden und Antihelden der Geschichte reiten auf Tigern, sind Getriebene eher als Treiber, Gelenkte eher als Lenker.

Das ist kein Freibrief und kein Freispruch. Es ist einfach die tröstliche Einsicht, dass wir am Ende gemeinsam in der Sauce sitzen, in die wir uns gemeinsam hineingeritten haben. Die Hitze moralischer Empörung mag vorübergehend wärmen, aber sie ist ein schlechter Kompass. Verständnis ist besser – und die Einsicht, dass unsere Irrtümer genauso gross sein können wie die unserer angeblichen Feinde.

Wie meistens rettet uns das christliche Denken vor uns selbst: Irren ist menschlich. Wir alle sind zu den himmeltraurigsten Schandtaten in der Lage, aber wir dürfen nie vergessen: In jedem Putin steckt ein Mensch. Selbstverständlich. Wir haben es auf der Erde nicht mit Teufeln oder Heiligen zu tun, sondern mit Menschen, die für sich die genauso erhabenen Motive in Anspruch nehmen wie wir. Frieden beginnt damit, dass man miteinander redet. Und jedes Gespräch setzt die Bereitschaft voraus, dass der andere recht haben könnte.