Geschäftsberichte und Aktionärsbriefe gehören nicht zu den literarischen Leckerbissen, ausser sie stammen von Warren Buffet (Berkshire Hathaway), George Soros (Soros Fund) oder Jamie Dimon (JP Morgan). Diese Berichte gelten als Fundgruben für Denkanstösse im Finanzbereich. Der diesjährige 61-seitige Aktionärsbrief von Jamie Dimon, dem CEO der weltgrössten Geschäftsbank, hat besonders grosse Aufmerksamkeit geweckt, weil er die Geopolitik, die US-Wirtschaft und die Bankenregulierung Basel III aus amerikanischer Perspektive beurteilt. Was die Geopolitik anbetrifft, so glaubt Dimon, dass die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, aber auch der Machtkampf zwischen den USA und China Risiken geschaffen haben, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hätten.

Dimons politische Weltsicht entspricht weitgehend der Programmatik von Ex-US-Präsident Trump, obwohl dieser im Bericht mit keinem Wort erwähnt wird. Dimon hat denn auch 2019 am WEF in Davos eingeräumt, dass sein Herz zwar noch demokratisch schlage, aber sein Verstand republikanisch handle. Bemerkenswert erscheint, dass in seinen Ausführungen zur Weltpolitik Europa nur am Rande erwähnt wird, während viele Politiker hierzulande immer noch glauben, Brüssel und Berlin seien das politische Zentrum der Welt.

Als Antwort auf die Frage, was die USA tun müssten, um die Welt wieder sicherer zu machen, und Freiheit und Demokratie zu verteidigen, schlägt er vier Massnahmen vor: 1. Sicherung der amerikanischen Führung inklusive militärische Vormacht. 2. Erzielen von wirtschaftlichen Erfolgen mit allen Verbündeten. 3. Stärkung des inneren Zusammenhalts. 4. Fokussierung auf die dringendsten Herausforderungen. Dimon ist so sehr von der Führungsposition der USA überzeugt, dass er keine Alternative zur unbestrittenen militärischen Vormacht der USA sieht, getreu dem Motto von Ex-Präsident Ronald Reagan: «Friede durch Stärke». Konkret fordert er eine Unterstützung der Ukraine, solange es erforderlich sei, und dies könne Jahre dauern. Die amerikanische Führerschaft erfordere aber nicht nur militärische Stärke, sondern eine breite «Symphony of Power», die gesamte Machtpalette, angefangen bei der Diplomatie über Geheimdienste, Kommunikation bis zur Wirtschaftspolitik.

Dimon bekennt sich zu den amerikanischen und global anerkannten Regelwerken wie internationale Handelsregeln, Sanktionen, Anti-Geldwäscherei- und -Korruptions-Regeln. Dennoch fordert Dimon zur Stärkung der Weltordnung umfassende Reformen, insbesondere benötige die Welt eine neue Bretton-Woods-Vereinbarung.

Der gesamte Westen überdenke die Wehrbereitschaft, die Rüstungsmankos sowie die militärischen Strategien und Allianzen. Die USA müssten das Gleiche für die künftige Aussenwirtschaftspolitik tun und die Strategien und Allianzen überprüfen. Der Westen unterschätze bis heute Gefahren, die von China ausgingen. Die chinesische Führung habe sich umfassend und frühzeitig auf die Wirtschaft fokussiert, während der Westen geschlafen habe. Diesen Rückstand gelte es zu korrigieren. Der erste Schritt dazu sei die übermässige Abhängigkeit von China als teils einzigem Zulieferanten zu reduzieren. Die USA dürften nicht von essenziellen Materialien für die nationale Sicherheit von einem Land abhängen, das als potenzielles Feindesland gelte. Gemeint sind seltene Erden, 5G und Halbleiter, Penizillin und andere Wirkstoffe für Medikamente etc. Die USA dürften aus dem gleichen Grund auch nicht modernste Technologien teilen, die die militärische Aufrüstung der Konkurrenten verbessern würden. Es sei offensichtlich, dass Chinas neue Führung einen neuen Kurs eingeschlagen habe, mit viel stärkerem Gewicht auf der nationalen Sicherheit, militärischen Spitzentechnologien und inländischer Entwicklung. Dies sei Chinas Recht, die USA müssten sich aber danach ausrichten.

Die dritte Thematik, die die USA angehen müssten, sei der unfaire Wettbewerb wie Subventionen für Elektroautos, erneuerbare Energien, KI. Aber auch andere staatliche Fördermassnahmen wie günstige Finanzierungen zur Ansiedlung ausländischer Unternehmen etc. Ungefähr 92 Prozent der Konsumenten weltweit lebten ausserhalb der USA. Deshalb müsse der Marktzugang dorthin zugunsten der einheimischen Arbeiter und Farmer gesichert werden. Vordringlichst sei die Wiederaufnahme des bereits verhandelten Trans-Pacific-Partnership-Abkommens. Dies wäre ein brillanter strategischer und ökonomischer Schritt, elf andere wichtige Länder wie Australien, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko Singapur oder Vietnam an die USA zu binden, um China entgegenzuwirken. Strengere Massnahmen seien notwendig, wenn sich Staatskapitalismus mit staatlichen (chinesischen) Unternehmen in kritischen Industrien breitmache und diese unfair handelten. Aber ebenso klar stellt sich Dimon gegen eine nationale Industriepolitik der USA, die lediglich zu Ineffizienzen führe.