Dieses Porträt erschien erstmals am 4. Oktober 2023, also noch bevor Javier Milei zum argentinischen Präsidenten gewählt wurde. Wir publizieren es erneut in einer leicht gekürzten Form.

 

Kaltstart im Lockdown

Javier Milei, 52, Professor für Ökonomie, nebenbei Buchautor, Wirtschaftsberater und Radiomoderator, unverheiratet, «Vater» von fünf Mastiffs, die er als seine «Kinder» bezeichnet, ist der Antipolitiker par exellence. Lateinamerika hat immer wieder solche Figuren hervorgebracht, in aller Regel populistische Caudillos, die sich schwer auf der Links-rechts-Achse einordnen lassen. Javier Milei ist anders. Seine ideologische Basis – die radikal-liberale Österreichische Schule – ist weder neuartig, noch verspricht sie schnelle und schmerzlose Lösungen. Die verführerische Geschmeidigkeit eines Nayib Bukele oder der saloppe Machismo eines Rafael Correa gehen ihm ab.

Der Professor, Berater und Radiomoderator Milei ist der Antipolitiker par excellence.Mileis Outfit – Lederjacke, Strubbelfrisur, Backenbart – fällt aus der Zeit und erinnert an einen Rockmusiker der 1970er Jahre. Der Mann irritiert bisweilen mit einer fast autistisch anmutenden Sturheit (es gibt welche, die ihm ein Asperger-Syndrom zuschreiben). Seine ausufernden, mit Zahlen und Fachausdrücken gespickten Vorträge haben etwas Professorales, wären da nicht jene eruptiven, oft grobschlächtigen Einlagen, in denen Milei seine Message eingängig auf den Punkt bringt.

Mileis politischer Aufstieg begann 2020 mit den Corona-Lockdowns, die Hunderttausende in den Ruin trieben. Wie anderswo war es auch in Argentinien eine Minderheit, die sich mit dem Schlachtruf «libertad, libertad, libertad» dem Corona-Regime widersetzte. Sie kamen aus allen sozialen Schichten, viele hatten sich zuvor kaum um Politik gekümmert. Bei den Parlamentswahlen 2021 schaffte Milei mit dem neugegründeten Bündnis La Libertad Avanza auf Anhieb den Sprung in den Kongress, an der Seite der Anwältin Victoria Villarruel, die nun als Vizepräsidentin kandidiert. Beide waren medial weitherum bekannt, auf der politischen Bühne aber Neulinge.

Milei beruft sich gerne auf Juan Bautista Alberdi, den geistigen Vater der liberalen Verfassung von 1853, die dem Land eine einzigartige Blüte bescherte. Ende des 19. Jahrhunderts verfügten die Argentinier über das weltweit höchste Pro-Kopf-Einkommen. Der feingeistige Intellektuelle Alberdi war gleichsam der Gegenpol zum Caudillo Juan Domingo Perón, einem Bewunderer von Benito Mussolini, dessen sozialistische Revolution (1946–1955) Argentinien bis heute prägt und spaltet. Es ist eine komplizierte Geschichte, ohne die sich das Phänomen Milei nicht erklären lässt.

Nach Peróns kurzem Comeback (1973) und der chaotischen Regentschaft seiner dritten Ehefrau, «Isabelita», stand Argentinien am Rande eines vom Caudillo selbst angezettelten Bürgerkrieges. 1976 bereitete eine Militärdiktatur unter dem (damals als Erlöser gefeierten) General Jorge Rafael Videla dem Blutvergiessen ein brutales, aber schnelles Ende. Der Peronismus spaltete sich in der Folge auf. Sowohl der rechtsliberale Präsident Carlos Menem (1989–1999) wie auch der sozialistische Néstor Kirchner und dessen Ehefrau Cristina (2003–2015) beriefen sich auf Perón.

 

Sieg dank sozialer Medien

Nach einem Intermezzo der Mitte-rechts-Regierung unter Mauricio Macri, die allerdings zu schwach war für echte Reformen, kam die peronistische Sozialistin Cristina Fernández de Kirchner 2019 zurück an die Macht, als Vizepräsidentin und graue Eminenz hinter dem blassen Alberto Fernández. Mittlerweile steht die einst aufstrebende Industrienation vor dem Bankrott. Mit einer leeren Staatskasse, einer Armutsquote von über 40 Prozent und einer ebenso hohen Staatsquote sowie einer Inflationsrate von über 120 Prozent ist das sozialistisch-peronistische Experiment definitiv gescheitert. Die Classe politique hat jede Glaubwürdigkeit und jeden Respekt verloren.

In ganz Lateinamerika kam es in den letzten Jahren zu einer unverhofften sozialistischen Renaissance. Doch der Eindruck täuscht. Die stets knappen Erfolge an den Urnen waren Protestvoten und einem hemmungslosen Klientelismus zu verdanken. Das Pendel schlägt nun zurück. In Peru und Chile stagniert die Wirtschaft unter linker Herrschaft nach Jahrzehnten des Wachstums. Weder der Ex-Terrorist Gustavo Petro in Kolumbien noch der greise Lula in Brasilien vermögen mit neuen Ideen zu begeistern. Die beiden Oldies beharren auf den alten Rezepten, die von den brutalen Hunger-Diktaturen Kuba, Venezuela und Nicaragua nachhaltig entzaubert wurden.

Weitgehend unbemerkt vom medialen Mainstream, ist in den sozialen Foren in Südamerika eine rechtsliberale Szene herangewachsen, die Millionen erreicht und sich um die etablierten Kanäle foutiert. Ohne ein Heer von jungen Bloggern mit oft exorbitanten Reichweiten wäre schon die Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien gegen den erbitterten Widerstand des vereinten Establishments undenkbar gewesen. Liberale Intellektuelle wie Axel Kaiser in Chile, Jaime Bayly (zurzeit in Miami) oder eben Javier Milei werden von einer jungen Anhängerschaft wie Rockstars gefeiert. Dabei haben Umfragen gezeigt: Anders als seine Konkurrenten rekrutiert Milei seine Fans in allen sozialen Schichten.

Sein waghalsigster Coup sind die Tiraden gegen Papst Franziskus, nach Messi der berühmteste Argentinier.Milei spricht Ideen aus, die andere nicht einmal zu denken wagen. Er hat kein Problem mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Drogen würde er freigeben, ebenso den Handel mit menschlichen Organen, während er die Abtreibung ablehnt. Vor allem würde er Staatsstellen mit all ihren Privilegien radikal dezimieren. Jeder Wahlkampf-Manager würde solche Positionen, die in kein Muster passen und viele aufschrecken, strikte unterbinden. Doch Mileis einzige Managerin ist seine Schwester, die bisweilen eine konträre Meinung vertritt (wie auch die Vize-Kandidatin Victoria Villarruel). Solche Widersprüche bieten zwar Angriffsflächen, verleihen Milei aber auch eine Authentizität, die seinen Konkurrenten abgeht. Und Aufmerksamkeit.

Mileis waghalsigster Coup sind seine Tiraden gegen Papst Franziskus, nach Fussball-Gott Messi der weltweit berühmteste Argentinier. Ob links oder rechts, kein lateinamerikanischer Politiker legt sich ungestraft mit der katholischen Kirche an. Genau das stört Milei. Der Jesuit Franziskus, der sich mit den übelsten Diktatoren wie den Castro-Brüdern oder Maduro in innigster Eintracht ablichten liess ebenso wie mit Ikonen der Korruption wie Lula oder Fernández, ist in seinen Augen ein Kommunist, ein Missionar des Bösen. Die Retourkutsche aus dem Vatikan liess nicht auf sich warten. Franziskus titulierte Milei als «Adolfito». Mexikos linker presidente Andrés Manuel López Obrador und Venezuelas Diktator Nicolás Maduro solidarisierten sich umgehend mit dem Heiligen Vater in Rom.

Milei trifft einen wunden Punkt. Anders als in den protestantischen USA hatte die Demokratie in den stockkatholischen Ländern Lateinamerikas stets einen schweren Stand. Das aufklärerische Ideal vom eigenverantwortlichen Individuum steht in einem unlösbaren Widerspruch zum streng hierarchischen Kollektivismus des Vatikans. Es ist kein Zufall, dass sich die katholische Kirche mit linken wie rechten Diktatoren Lateinamerikas in aller Regel bestens arrangierte. Namentlich die Jesuiten pflegten stets eine unverhohlene Nähe zu den marxistischen Guerillas des Kalten Krieges. Und nicht selten nahm ein Mönch selber eine Kalaschnikow in die Hand.

 

Falsche Helden

Ein Tabubruch war auch die Lancierung von Victoria Villarruel als Vizepräsidentin. Die 48-jährige Anwältin stammt aus einer Familie von Militärs. Ihr Vater war an der Niederschlagung des Guerilla-Terrors der 1970er Jahre beteiligt. Zwar hat Villarruel die brutalen Verbrechen nie verteidigt, welche Polizei und Armee damals begingen. Sie bekennt sich ohne Wenn und Aber zur verfassungsmässigen Demokratie. Doch als Anwältin kämpft sie seit Jahren für eine Anerkennung der nicht weniger zahlreichen Opfer des marxistischen Terrors im gleichen Mass, wie sie den Opfern des Staatsterrors zuteilwurde. Und sie wehrt sich dagegen, dass getötete Guerilleros, die an Bombenattentaten, Entführungen oder Morden beteiligt waren, als Opfer der Repression geehrt werden.

Hinter dem argentinischen Wahlkampf verbirgt sich ein seit Jahrzehnten schwelender Kulturkampf, den die marxistische Linke längst gewonnen glaubte. Von Chile über Argentinien bis Brasilien und Peru erzählen die Schulbücher die Geschichte der blutigen Konflikte während des Kalten Krieges aus der verzerrten Perspektive der Guerillas. Doch die von Moskau, Peking und Havanna ferngesteuerten Klassenkämpfer waren alles andere als Demokraten, was in der linken Mythologie mit ihren falschen Helden systematisch ausgeblendet wird. Die Militärdiktaturen jener Epoche waren vielmehr eine direkte Folge des marxistischen Terrors, der die Demokratien mit eiskaltem Kalkül an den Rand des Abgrundes getrieben hatte. Das ist der Boden, der das Phänomen Milei hervorbrachte.