Natürlich löst ein Strafurteil gegen eine 99-Jährige bei den meisten Leuten nur noch Kopfschütteln aus. Da sind zwei Jahre Freiheitsstrafe so viel wie ein Lebenslang für Jüngere.

Und dann auch noch ausgesetzt zur Bewährung, als ob die alte Dame jemals rückfällig werden könnte, und mit der Haftfähigkeit ist es auch so eine Sache in dem Alter.

Und überhaupt, auch das sagen viele: Irmgard Furchner war doch nur Sekretärin, zwar im Konzentrationslager Stutthof, doch mehr als Papiere mit Stempeln versehen und Briefe eintüten wird sie vor achtzig Jahren wohl nicht getan haben. Eine Farce also.

Die deutsche Justiz verplempert mit derlei sinnfreien Aktionen ihre ohnehin knappen Ressourcen, während gefährliche Verbrecher auf freien Fuss gelassen werden müssen, weil ihre Prozesse wegen Überlastung nicht rechtzeitig terminiert werden können.

Ganz so einfach ist es allerdings nicht. Irmgard Furchner war im Dezember 2022 vom Landgericht Itzehoe immerhin wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen verurteilt worden. Denn, so die Rechtsprechung seit dem berühmten Demjanjuk-Verfahren in München, auch die kleinen Rädchen waren nötig, um die Mordmaschinerie der Nazis am Laufen zu halten. Dabei war Furchner so unwichtig nicht, wie manche Kritiker meinen. Als rechte Hand des Lagerkommandanten wusste sie über alles Bescheid, sie konnte Entscheidungen auch in eigener Verantwortung treffen und – vor allem: Sie hat das freiwillig getan. Niemand hat sie gezwungen, dem Morden vor der Tür ihres Büros tatenlos zuzuschauen, ja zum reibungslosen Funktionieren der Tötungsfabrik mit ihren Kräften beizutragen.

Das höchste Strafgericht Deutschlands, der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, hat das Urteil gegen Furchner jetzt bestätigt. Den Itzehoer Richtern war kein Rechtsfehler unterlaufen, und auf Mord sowie Beihilfe dazu steht nun mal in Deutschland zwingend Lebenslang. Da gab es kaum Spielraum für eine andere Entscheidung.

Natürlich hätten die Karlsruher Oberrichter freisprechen können, etwa weil Frau Furchner nicht mehr klarzumachen gewesen war, warum sie vor Gericht stand. Aber wäre das nicht auch ein Zeichen gewesen, dass die deutsche Justiz es mit der Aufarbeitung der zunehmend im Nebel des Vergessens verblassenden Naziverbrechen doch nicht so ernst nimmt?

Auch andere Greise wie etwa der «Buchhalter von Auschwitz», Oskar Gröning, und weitere kamen erst Jahrzehnte später vor Gericht, und die Urteile gegen sie wurden rechtskräftig, egal, ob die Delinquenten einsichtig und reuevoll waren oder die Verhandlung nur teilnahmslos über sich ergehen liessen.

Man mag mit Fug und Recht räsonieren über derlei «Symbolpolitik» und über «Schauprozesse», nachdem die Aufarbeitung des Menschheitsverbrechens der Nazis jahrzehntelang schleifen gelassen wurde. Man kann auch fragen, welchen Strafzweck solche Urteile verfolgen. Es gibt weltweit kaum noch überlebende Opfer, ebenso wenig Täter. Also Schwamm drüber?

Auch das Urteil gegen eine KZ-Sekretärin erinnert an die Worte des Vorsitzenden im Gröning-Urteil: «Dabei durfte man nicht mitmachen!» Diese Mahnung ist angesichts der politischen Weltlage aktueller denn je.