Man muss ja aufpassen mit solchen Befunden. Die Dekadenz, der Niedergang, ja der Untergang des Abendlandes ist ein Evergreen der rechten Kulturkritik, immer haarscharf am Rand der Weinerlichkeit oder darüber hinaus, oft genug nur der philosophisch verbrämte Gefühlskitsch der Konservativen, die narzisstische Kränkung jener, die das Gefühl haben, mit der Gegenwart nicht mehr so richtig mitzukommen, Weltschmerz aus dem Schmollwinkel, das Wesentliche verkennend, nämlich die grundsätzlichen Ur- und Triebkräfte des Lebens, die stets, wenn auch manchmal mit Verzögerung, ins Positive ausschlagen. Die Dekadenz-Apostel übersehen, dass die Welt nicht verdammt ist, woraus aber nicht automatisch folgt, alles sei in bester Ordnung.

Trotzdem stellt sich bei vielen, auch bei mir, der Eindruck ein, dass sich das, was wir als unsere westliche Zivilisation bezeichnen, auf dem falschen Weg befindet, die eigenen Grundsätze nicht nur vergessen zu haben scheint, sondern mit Füssen tritt. Oft höre ich die Einschätzung, es gehe uns noch zu gut, die Probleme in der Politik, den Schulen, den Kirchen, den Medien seien die Folge einer Phase sorglosen Überflusses. Seit Jahrzehnten gab es in Europa keinen Krieg mehr. Wirtschaftskrisen wurden in Ozeanen von Notenbankgeld ertränkt. Unsere Staaten und Politiker waren vor allem damit beschäftigt, die Wirklichkeit und ihre Lasten von den Wählern fernzuhalten. Nun stellen wir fest, dass es überall lottert und wankt. Die Realität trifft auf eine verkaterte, verweichlichte Gesellschaft.

Es ist schon allerhand, was da draussen so passiert. In den USA regiert ein in die Senilität abgleitender über Achtzigjähriger die weltgrösste Supermacht. Sein Herausforderer und Vorgänger, der sich weigert, seine Wahlniederlage anzuerkennen, hat Dutzende von Strafklagen am Hals und könnte unter Umständen schon bald hinter Gittern sitzen. In der Europäischen Union sind Grünschnäbel und Lehrlinge am Werk. Sie rennen in der Weltgeschichte herum, um anderen Völkern zu predigen, was sie zu tun und zu denken haben. Staunend, fast ungläubig und erschrocken nehmen wir zur Kenntnis, wie eine demokratisch gewählte Regierung in Berlin auftragsgemäss die Grundlagen ruiniert, auf denen die Bundesrepublik zu einer führenden Wirtschaftsweltmacht aufsteigen konnte.

Während die Realität immer spürbarer auf die Portemonnaies der Leute durchschlägt, beschäftigen sich viele Medien, nach wie vor grosse Teile der Politik und auch die akademische Welt unserer Hochschulen zum Beispiel mit Gender-Toiletten, der Subventionierung von Elektroautos, frühkindlicher Sexualerziehung oder der Frage, ob man der Wirtschaft verbindliche Geschlechterquoten in den Führungsgremien verordnen solle. Es finden gelehrte und ernsthafte Debatten darüber statt, wie sich die sogenannte Gendersprache bei Behörden und Unternehmen allgemeinverbindlich einführen lasse. Ich bin vermutlich nicht allein mit dem Gefühl, dass die von uns gewählten Regierungen den Draht zur Wirklichkeit irgendwie verloren haben könnten.

Einige Politiker scheinen das allmählich sogar selber zu realisieren. In der Migrationspolitik geben immer mehr Verantwortliche offen zu, dass sie sich ausserstande sehen, den masslosen Ansturm einer illegalen Völkerwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten in den Griff zu bekommen. Mutwillige Ohnmacht ist das Wort, das einem in den Sinn kommt, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, dass sich in Deutschland inzwischen mehrere hunderttausend abgewiesener Asylbewerber aufhalten, die längst hätten ausreisen müssen. Doch Medien und Politik entwickeln eine fast schon wieder bewundernswerte Kreativität darin, das krasse Behördenversagen als das Resultat höherer, angeblich unbezwingbarer Schicksalsmächte schönzureden.

Gleichzeitig scheint sich im Westen die politische Impotenz mit einer Allüre moralischer Überlegenheit zu panzern. Es findet eine Art kollektive Realitätsflucht in den Moralismus statt, in eine aggressive, militante Intoleranz, die abgesehen von der Guillotine stark an die Tugendrasereien der Französischen Revolution erinnert. Auch damals führten die tonangebenden Kreise im Namen der Zukunft, des angeblichen Fortschritts und der von ihnen befohlenen Moral einen mitleidlosen Kreuzzug gegen alles, was sich dem säkularen Neuerungswahn entgegenstellte. Damals wie heute stürzen sich die Jakobiner auf die Konservativen in Politik, Medien, Kunst und Kirchen. «Woke» ist der Schlachtruf in diesem Kulturkampf gegen «rechts», Synonym für alles Schreckliche und Böse.

Das alles ist fürchterlich, aber wenigstens nicht von Dauer. Das Problem des Moralismus ist, dass nichts dahintersteht. Er ist eine machtlose Gewalt. Und früher oder später merken es die Leute. Eine augenöffnende Schlüsselszene aus jüngster Zeit waren die stehenden Ovationen, die das kanadische Parlament im Beisein von Präsident Selenskyj einem 98-jährigen Veteranen einer ukrainischen Grenadierdivision der Waffen-SS spendete. Der Vorfall war für alle Beteiligten ein Super-GAU, denn der Ukraine-Krieg bündelt geradezu die Irrtümer und Anmassungen des «woken» Westens. Im Glauben, gegen die angeblich teuflischen Russen einen heiligen Krieg für Freiheit und Demokratie auf Kosten der Ukraine zu führen, landet man bei einer Andacht für einen Nazi-Kriegsverbrecher.

Kürzlich habe ich mich mit einem ehemaligen Nachrichtenoffizier der US-Marines unterhalten. Er sagte, Putin und Xi Jinping seien für ihn die letzten Erwachsenen auf der Weltbühne. Europa und die Vereinigten Staaten würden dagegen von Teenagern regiert. Ich ertappte mich dabei, dieser Analyse zuzustimmen. Man muss kein Verteidiger autoritärer Regimes sein, um allein in der Art, wie unsere Politiker, Akademiker und Journalisten über China und Russland reden, einen weiteren Beleg für den realitäts- und geschichtsblinden Moralismus, für eine abstossende Selbstgerechtigkeit zu entdecken, deren unübersehbare Schwäche darin besteht, keinen Widerspruch zu dulden. Dekadent und zum Scheitern verurteilt ist eben auch die herrische Überheblichkeit gegenüber anderen Meinungen.