Dieser Text ist ein Auszug aus dem soeben erschienenen Buch «Abschreckend oder erschreckend? Europa ohne Sicherheit» von Erich Vad. Der Autor ist Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr war Gruppenleiter im Bundeskanzleramt, Sekretär des Bundessicherheitsrats und militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er kritisiert die militaristische Kriegsrhetorik in Deutschland und fordert Diplomatie und Verhandlungen für ein Ende des Krieges. Erschienen ist der Auszug zuerst auf dem Onlineportal Infosperber.

Der Krieg in der Ukraine ist an einem Punkt angelangt, an dem er beendet werden muss, und zwar mit diplomatisch-politischen Mitteln. Ansonsten kann es zum Schlimmsten kommen: zu einer blutigen, endlosen Verlängerung des Krieges, der letztlich trotzdem in Verhandlungen enden würde; oder zu einem Sieg Russ­lands, der Putin ermutigen könnte, auch andere Länder zu überfallen; oder zu einem Dritten Weltkrieg, der eventuell mit Atomwaffen ausgetragen und Europa für immer verändern würde.

Deutschland und die Nato müssen daher weiter – jedoch ohne die Situation eskalieren zu lassen – Waffen liefern und die Ukraine unterstützen, um eine Niederlage des Landes auszuschliessen. Auf einen militärischen Sieg der Ukraine zu hoffen, ist nicht realistisch und kann mit einem Blick auf die Konsequenzen auch nicht im deutschen und europäischen Sinne sein. Russland zu besiegen – sofern das bei einer Nuklearmacht überhaupt möglich ist –, es vielleicht sogar zu zerschlagen, hätte gewaltige Auswirkungen auf Deutschland und Europa, die wir derzeit gar nicht absehen können. Wer sollte ein solches überdimensional grosses strategisches Vakuum in Eurasien füllen?

Die Ukraine allein könnte keine Warlords bändigen, keine Vertreibungen zwischen den unzähligen Ethnien und Völkerrechtssubjekten im dann ehemaligen Russland verhindern, keine riesige Zahl Flüchtender aufnehmen, den Aufbau eines neuen Russlands nicht alleine bewältigen. Als «Siegermacht» wäre der gesamte Westen gefordert, was einen enormen materiellen, finanziellen und personellen Aufwand mit sich brächte. Wenn wir die Situation realistisch betrachten und strategisch vom Ende her denken, kann es nicht in unserem Interesse sein, Russland zu besiegen und dadurch die gesamte Region zu destabilisieren.

Es kann nur eine politische Lösung geben

Deshalb ist es dringend an der Zeit, ernsthaft und länderübergreifend eine politische Lösung für den Krieg anzustossen. Lange genug haben wir – nicht nur in Deutschland – Kriegsrhetorik und Haltungsdiplomatie im Umgang mit dem Krieg bemüht. Das mag ehrenhaft sein und unsere Solidarität zeigen, aber es trägt nicht zu einem Ausgleich bei, macht diesen eventuell sogar schwieriger. Ich spreche hier nicht von Pazifismus und Kapitulation vor den Russen, sondern von der Erkenntnis, dass es in diesem für mich militärisch nicht zu gewinnenden Krieg nur eine politische Lösung geben kann.

Wer Krieg versteht, weiss, dass es nicht um emotional aufgeladene Debatten gehen kann, um einseitige Parteinahme, um eine moralisch klare Positionierung. Wer Lösungen finden will, muss versuchen dürfen, über den beteiligten Kriegsparteien zu stehen, um das gesamte Bild zu sehen – nicht nur die Seite, der man emotional zuneigt. In den vergangenen zwei Jahren war das schwierig, für viele Deutsche war es ein moralisches Tabu, reine Fakten zu sehen und unbeliebte mögliche Szenarien anzusprechen.

Deshalb haben wir bis heute kein strategisches Konzept, keine realistischen Ziele bezüglich der Ukraine – nur Waffenlieferungen. Auch auf europäischer Ebene fehlt uns jede Vision und Strategie, wie wir künftig mit Russland umgehen wollen. Das müssen wir ändern. Es wird an den Europäern liegen, die jetzige Situation mitzugestalten, zumal der Krieg in der Ukraine uns auch wirtschaftlich unmittelbar betrifft.

Gegenseitige Sicherheitsbedürfnisse berücksichtigen

Die Antwort auf die Frage, wie man Putin in der gegenwärtigen militärischen Pattsituation an den Verhandlungstisch bringt, muss dabei lauten: politisch gesichtswahrend für den Westen wie für Russland unter gegenseitiger Akzeptanz der Sicherheitsbedürfnisse beider Seiten. Politischer Druck muss dazugehören, ohne ihn geht es nicht. Deutschland muss hier anstossen und initiieren.

Realistisch betrachtet ist hier vor allem auch China gefordert, weil es derzeit den meisten Einfluss auf das russische Regierungshandeln hat, sowie die USA, von denen die ukrainische Regierung unter Wolodymyr Selenskyj massiv abhängt. Insofern ist es höchst unglücklich, dass die USA durch die diesjährigen Präsidentschaftswahlen nur bedingt handlungsfähig sind.

Man wird sehen, ob es Peking gelingen kann, vermittelnd einen Waffenstillstand politisch durchzusetzen. Es wäre grundsätzlich ein positives Ergebnis, allerdings auch eine herbe politisch-diplomatische Niederlage für die USA und den Westen, die sich Verhandlungen bislang verschliessen und sich – in erster Linie die Vereinigten Staaten – zudem in einem Wettkampf mit China um die Weltherrschaft befinden. Die jahrelange konfrontative Situation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, die vor allem den amerikanischen Interessen im Nahen Osten dienlich war, konnte China als Vermittler bereits überwinden. Sollte Peking auch mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine ähnlichen Erfolg haben, wäre China von diesem Zeitpunkt an ein europäischer Machtfaktor, was die systemische Rivalität mit den USA nicht einfacher gestaltete.

Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktbewältigung müssen jetzt unser politisches Ziel sein. In einem ersten Schritt muss ein Waffenstillstand verhandelt werden; danach können Friedensverhandlungen beginnen.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie ein Deal aussehen könnte. In jedem Fall muss er für alle Seiten realpolitisch annehmbar sein. Selbst ein guter Kompromiss wird für die Ukraine schwierig zu akzeptieren sein, schliesslich ist Moskau der Aggressor, während sich Kiew legitim verteidigt. Ein solcher Deal müsste die Rechte der Ukrainer und ihrer russischsprachigen Bevölkerung genauso ernst nehmen wie die Sicherheitsinteressen Russlands, auch wenn es schwerfällt, Putin auf diese Art entgegenzukommen.

Emotionen dürfen uns nicht leiten

Doch Emotionen gehören hier nicht hin. Fakt ist, Putin wird auch auf absehbare Zeit weiter an der Macht sein. Es ist unwahrscheinlich, dass er vom Militär oder von den Geheimdiensten weggeputscht wird. Ein Grossteil der russischen Bevölkerung steht (leider) zu ihm. Die Wirtschaftssanktionen des Westens wirken sich nicht auf die Kriegführung aus. Stattdessen scheinen sie auf kontraproduktive Weise die Russen bei ihren Gas- und Ölexporten reicher zu machen als jemals zuvor. Sprich: Russland wird auch nach dem Krieg in der Ukraine ein Machtfaktor in Europa bleiben.

Der Krieg in der Ukraine hat auch gezeigt, dass die Europäer keine ernstzunehmende europäische Verteidigung haben, die man bei Bedarf zügig hochfahren könnte, keine Streitkräfte, die auf überstaatlicher Ebene effizient zusammenarbeiten (können). Für die Bundeswehr müssen wir sogar feststellen, dass sie in einem ausgesprochen schlechten Zustand ist. Wehrhaft ist Deutschland nicht. In den letzten Jahrzehnten war das auch nicht nötig und weder politisch noch gesellschaftlich gewollt. Wir haben in der Blase eines friedlichen Miteinanders gelebt. Der Kremlchef hat diese Blase mit seinem Angriff gegen einen europäischen Staat – ein potenzielles Mitglied der Europäischen Union und der Nato – platzen lassen und Europa unsanft aus friedlichen Zeiten herausgerissen.

Doch auch wenn er uns schmerzhaft unsere Schwächen aufgezeigt hat, so hat sein Krieg gegen die Ukraine uns Europäer näher zusammengebracht und uns ermutigt: Wir können und werden stark sein, wenn wir wollen. Ein gewisser Aufwand wird allerdings nötig sein.