Bei diesem Text handelt es sich um Michael von der Schulenburgs Rede zu den Ostermärschen. Er hielt sie an Ostern 2024 in Berlin und Nürnberg.

Heute sind die Ostermärsche wieder viel wichtiger geworden als bisher. Denn die Welt versinkt zunehmend in Kriegen and bewaffneten Auseinandersetzungen. Nach Angaben der Vereinten Nationen war bereits 2022 das Jahr mit den meisten, intensivsten und blutigsten Kriegen in der Welt seit dem Ende des Kalten Krieges, vielleicht sogar seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Das wird inzwischen um einiges noch schlimmer geworden sein.

Die Europäische Union ist von dieser Entwicklung besonders stark betroffen, denn fast alle Konfliktzonen und aktiven Kriege liegen heute in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas – wie Armenien/Aserbaidschan, Afghanistan, Libanon, Jemen, Sudan, Somalia, Libyen, Irak, Iran, Mali und die gesamte Sahelzone. Die meisten dieser Kriege und Konfliktzonen sind sogar erst durch militärische Interventionen des Westens entstanden oder verschärft worden.

Und nun ist auch der Krieg in Gaza mit voller Wucht ausgebrochen und hat zu den schlimmsten Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in der jüngsten Geschichte geführt. Der ganze Nahe Osten in unserer Nachbarschaft riskiert davon in Brandt gesteckt zu werden. All das hat und wird starke Auswirkungen auf die Sicherheit Europas haben. Weder die USA noch China befinden sich in einer ähnlich gefährlichen Situation, da es in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft keine ähnlich intensiven Konflikte und Kriege gibt.

Von all diesen Kriegen bleibt der Ukraine-Krieg weiterhin die weitaus höchste Gefahr für die Sicherheit der Europäischen Union und deren Mitgliedsstaaten. Er ist der grösste und gefährlichste Krieg seit dem Ende des Kalten Krieges, in dem zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Nuklearwaffen von strategischer Bedeutung sind. Es ist ein Krieg, der sich auf europäischem Boden abspielt, und ein Krieg, in dem sich die Europäische Union immer weniger auf die Führungsrolle der Vereinigten Staaten verlassen kann. Mit dem zunehmenden Rückzug der USA aus dem Ukraine-Krieg steht die Europäische Union der enormen Gefahr gegenüber, die von diesem Krieg ausgeht, allein da.

Auf sich gestellt, versagen allerdings die verantwortlichen Politiker der Europäischen Union und deren Mitgliedsstaaten. Anstelle zu versuchen, diese Gefahr durch Diplomatie und Verhandlungen zu entschärfen und den Grundstein für ein friedliches Europa zu legen, folgen die Politiker der irreführenden Kriegslogik, wonach nur ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland einen Frieden bringen könne – und das jetzt noch, da ein militärischer Sieg völlig unrealistisch geworden ist.

In diesen Zeiten der grössten Gefahr für Europa fehlt es den politischen Verantwortlichen der Europäischen Union an Besonnenheit und politischem Realismus. Viele ihrer Reaktionen haben gar Züge politischer Unverantwortlichkeit, die oft an politischen Wahnsinn grenzen.

Denn es ist ein Wahnsinn, dass deutsche Generäle über Möglichkeiten des Einsatzes von Taurus-Raketen nachdenken und darüber, wie eine deutsche Verantwortung dabei verschleiert werden könnte, obwohl der Einsatz einer solchen Waffe ohne jede Vorwarnung den Kreml zerstören und damit zu einer nuklearen Gegenreaktion führen könnte.

Denn es ist ein Wahnsinn, dass der französische Präsident über die Entsendung von Nato-Truppen in den Ukraine-Krieg nachdenkt und sein Generalstabschef die Mobilisierung von 60.000 Nato-Soldaten fordert und damit einen gesamteuropäischen Krieg lostreten würde.

Es ist ein Wahnsinn, dass noch nach zwei Jahren des Krieges die Anträge der Ampelkoalition und der CDU/CSU-Opposition zur Bundestagsdebatte zum Jahrestag des Ukraine-Krieges wie Kriegserklärungen klingen, ohne auch nur einen Hauch einer Bereitschaft für friedliche Lösungen erkennen zu lassen.

Es ist ein Wahnsinn, dass Kriegsbefürworter immer noch davon reden, Russland besiegen zu wollen, und nicht zögern, dabei die Zerstörung der gesamten Ukraine zu riskieren.

Es ist ein Wahnsinn, dass Politiker der Grünen-Partei uns weiterhin weismachen wollen, dass wir uns auch bei einer direkten Beteiligung der Nato gegen die Nuklearmacht Russland vor einem Nuklearkrieg nicht fürchten müssten.

Es ist ein Wahnsinn, wenn EU-Aussenminister immer mehr wie Kriegstreiber klingen und nicht wie Chefdiplomaten, deren Hauptaufgabe es doch sein sollte, Kriege zu verhindern und dort, wo Kriege ausgebrochen sind, nach friedlichen Lösungen zu suchen.

Es ist ein Wahnsinn, wenn die Präsidentin der EU-Kommission zum zweiten Jahrestag des Krieges nach Kiew reist und Schulter an Schulter mit der italienischen Ministerpräsidentin, deren Wurzeln in der faschistischen Vergangenheit Italiens liegen, behauptet, europäische Werte zu verteidigen.

Es ist ein Wahnsinn, diesen Krieg in ein drittes Jahr gehen zu lassen, wohlwissend, dass die Ukraine diesen Krieg nicht mehr gewinnen kann und er nur noch mehr Menschen das Leben kosten wird oder gar zum Kollaps der Ukraine führen könnte.

Denn es ist ein Wahnsinn, dass wir Europäer nach zwei Jahren des gefährlichsten und furchtbarsten Krieges auf europäischem Boden bisher keinen Versuch unternommen haben, diesen Krieg, wie in der Uno-Charta gefordert, durch Verhandlungen oder Mediationen zu beenden.

Aber dieser Wahnsinn des Krieges geht heute weit über den Ukraine-Krieg hinaus, und die Europäische Union tut nichts, dem gegenzusteuern.

Denn es dominiert heute der weltweite Wahnsinn, zu glauben, dass Konflikte nur noch durch die Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden können und nicht mehr durch Diplomatie.

Es ist der Wahnsinn, dass wir unsere Sicherheit nur noch in immer höheren Rüstungsausgaben zu finden glauben und dass wir das durch weniger Klimaschutz, weniger soziale Gerechtigkeit, aber mit mehr Hunger, mehr Armut, mehr Flüchtlingen, mehr Migranten und mehr, ja sehr viel mehr Menschenopfern erkaufen.

Es ist der Wahnsinn, zu glauben, durch immer grössere Waffenexporte Demokratie und Rechtstaatlichkeit in der Welt durchzusetzen.

Und es ist der Wahnsinn, eine rasante Entwicklung zu immer stärkeren und technologisch hochkomplexen Waffensystemen zu fördern, Waffensysteme, die wir nicht einmal während des Kalten Krieges kannten und die unsere Welt und alles Leben auf der Erde in wenigen Minuten gleich mehrmals völlig zerstören könnten.

Und es ist ein Wahnsinn, dass wir in einer Zeit immer stärkerer Waffensysteme alle Verträge zu Rüstungsbeschränkungen und alle gegenseitige Überwachung dieser Verträge gekündigt haben, die wir noch während des Kalten Krieges und der Zeit unmittelbar danach abgeschlossen hatten, um die Welt sicherer zu machen.

Es ist der Wahnsinn, dass wir eine immer gierigere Rüstungsindustrie von allen moralischen und menschlichen Beschränkungen befreien und deren Entwicklung auch noch mit öffentlichen EU-Mitteln subventionieren.

Es ist der Wahnsinn, alle vertrauensbildenden Massnahmen abgebaut zu haben, die einst darauf abzielten, sich gegenseitig zu versichern, dass es keine Überraschungsangriffe geben würde.

Es ist der Wahnsinn, dass unsere heutige Waffentechnik genau das Gegenteil tut und darauf abzielt, den Gegner zu überraschen und ihm immer weniger Zeit zu geben, auf einen Angriff zu reagieren.

Und das immer kürzere Zeitfenster, auf Angriffe zu reagieren, führt zum ultimativen Wahnsinn einer Entwicklung, in der wir es zunehmend einer künstlichen Intelligenz überlassen, über Krieg oder Frieden zu entscheiden. Das Überleben unserer Erde, das Überleben der Menschheit könnte so von einer künstlichen Intelligenz entschieden werden.

Was können wir tun, um diesen Wahnsinn des Kriegs zu stoppen?

Es ist dringend erforderlich, dass wir alle umdenken und dass wir unsere Regierungen dazu drängen umzudenken. Wir brauchen eine europäische Politik des Friedens und nicht des Krieges.

Leider werden wir heute nicht mehr in der Lage sein, grosse Friedensdemonstrationen zu organisieren, wie wir sie zur Zeit des illegalen Angriffskrieges auf den Irak noch kannten – und dass, obwohl heute die Sicherheitslage in der Welt um ein Vielfaches gefährlicher für die Menschheit geworden ist, als es noch 2003 der Fall war.

Und doch gibt es Hoffnung. Denn es zeichnet sich ein Umschwung in der öffentlichen Meinung ab. Trotz aller kriegstreibenden Medien gibt es inzwischen europaweit eine wachsende Mehrheit, die sich gegen eine Weiterführung des Krieges, gegen weitere Waffenlieferung und für Verhandlungen ausspricht. Darauf müssen wir bauen!

Wir müssen es schaffen, diese Trendwende zum Frieden in der Bevölkerung in eine politische Kraft umzusetzen. Dazu müssen wir die Menschen in Europa aufrufen, die Europawahlen zu einer Richtungswahl für Frieden zu machen.

In dieser Europawahl gibt es nun in Deutschland die politische Alternative für Frieden zu wählen, ohne dabei nationalistische oder gar rassistische Ziele mit in Kauf nehmen zu müssen.

Ich rufe Euch daher alle auf, wählt am 9. Juni für Frieden, für die Vernunft zu friedlichen Lösungen und für soziale Gerechtigkeit. Diese Europawahl ist wichtig, um den Frieden in Europa wiederzugewinnen.

Danke, dass Ihr mir zugehört habt!

Michael von der Schulenburg ist ein deutscher Diplomat und ehemaliger UN Assistent Secretary-General. Bei der Wahl für das Europaparlament kandidiert er für das Bündnis Sahra Wagenknecht, er ist aber nicht Parteimitglied.