Hongkong

Die Vorstellung, Deutschland oder Westeuropa als Ganzes sollten sich von China abkoppeln, der erfolgreichsten und wachstumsstärksten Volkswirtschaft der vergangenen fünfzig Jahre, wäre vor fünf, sechs Jahren, bevor Donald Trump zum Wirtschaftskrieg gegen China ansetzte, abwegig erschienen. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sei alles anders geworden, heisst es. Deutschland, so das neue Narrativ, habe sich mit dem Bau der Nordstream-Pipelines abhängig von russischem Erdgas gemacht, weil man an das naive Märchen von «Wandel durch Handel» geglaubt habe, bis der russische Angriffskrieg alle aus diesem Traum gerissen habe.

Nun versucht Washington, die Deutschen unter Verweis auf den Ukraine-Krieg dazu zu bringen, sich wirtschaftlich von ihrem grössten Handelspartner abzukoppeln. Man argumentiert, dass Taiwan (das historisch zu China gehörte und von den USA und den meisten anderen Ländern der Welt als Teil Chinas betrachtet wird) mit einer Invasion durch die Volksrepublik rechnen müsse. Allerdings hat China wiederholt erklärt, dass nur eine Unabhängigkeitserklärung durch Taiwan zu einer militärischen Intervention führen werde.

Zaubermittel künstliche Intelligenz

Washington bezeichnet die Volksrepublik als gefährliche imperialistische Macht und argumentiert, dass Taiwan ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie die Ukraine. Jedwede Abhängigkeit von chinesischer Technologie sei daher inakzeptabel, vor allem wenn es um Marktführer wie Huawei gehe, dessen Produkte angeblich Instrumente für Spionage, ja sogar Sabotage seien. Das also sind, nach amerikanischer Lesart, die Risiken für die europäische Industrie. Doch das grösste Risiko für die Europäer wäre es, den Anschluss an die vierte industrielle Revolution zu verlieren.

Europa ist sich noch nicht im Klaren darüber, was riskanter ist – abhängig von chinesischer Technologie zu sein oder die von China vorangetriebene vierte industrielle Revolution zu verpassen. Die Europäische Kommission plädiert für eine klare und kostspielige Abgrenzung gegenüber China. Ein kritischer Testfall ist die Rolle von Huawei und ZTE in der europäischen Mobilfunk-Infrastruktur – immerhin beherrschen diese beiden Ausrüster 59 Prozent des deutschen und 72 Prozent des niederländischen Mobilfunknetzes.

Die Europäische Kommission plädiert für eine kostspielige Abgrenzung gegenüber China.Als die USA Huawei erstmals 2019 auf die schwarze Liste setzten, schätzte die Global System for Mobile Communications Association (GSMA), dass ein Verzicht auf chinesische Ausrüstung den Einsatz von 5G auf dem Kontinent um 55 Milliarden Euro verteuern, die Investitionskosten der europäischen Telekommunikationsbranche in Höhe von jährlich 34 Milliarden Euro fast verdoppeln würde. Für die europäische Industrie, die Mühe hat, ihre enormen Investitionen in 5G zu rechtfertigen, wäre der Verzicht auf chinesische Ausrüstung ein Risiko. Ein noch grösseres Risiko ergibt sich aber aus den transformativen Auswirkungen der neuen Kommunikationstechnologie.

Europa war bei der dritten industriellen Revolution (Computer, Telekommunikation und Elektronik) nur Zuschauer. Amerika entwickelte die Schlüsseltechnologien (integrierte Schaltkreise, optische Netzwerke, Displays, Internet), aber die Europäer behielten dank ihrer Expertise in Maschinenbau, Chemieindustrie und Metallverarbeitung ihre globale Marktführerschaft. Europa kann es sich jedoch nicht leisten, die vierte industrielle Revolution zu verpassen.

China hat hier einen natürlichen Vorteil, den die chinesische Führung entschlossen ausspielen will. Die industrielle Revolution 4.0 arbeitet mit künstlicher Intelligenz (KI) und der Übertragung riesiger Datenmengen in der Realwirtschaft (Produktion und Logistik). Mit 30 Prozent der globalen Produktionskapazität hat China eine breite ökonomische Basis, immer raffiniertere Anwendungsmöglichkeiten von KI zu erproben.

Die Produktivität in der Informationstechnologie ist explodiert. 1980 kostete das Speichern von einem Terabyte Daten mehr als sechs Milliarden Dollar, 2022 nicht einmal sechzig Dollar – eine Verbilligung um acht Grössenordnungen. In traditionellen Industrien ist dagegen eine nur geringfügige Produktivitätssteigerung zu beobachten. In Amerika legte die Produktivität zwischen 1988 und 2022 nur um durchschnittlich 2,3 Prozent jährlich zu.

Das Zaubermittel, welches das exponentielle Wachstum der IT-Produktivität mit der Realwirtschaft verknüpft, ist die künstliche Intelligenz, unterstützt durch superschnelle und massenhafte Datenübertragung. KI verspricht einen radikalen Wandel bei den Kosten von Produktion, Lagerhaltung und Transport. Während der ersten industriellen Revolution wurde Baumwolle durch die Dampfmaschine um den Faktor 300 billiger. Die Veränderungen bei den Produktionskosten könnten in den nächsten Jahren ähnlich disruptiv sein.

Lösung für Entwicklungsländer

Ein Anhaltspunkt ist die grösste Industriebranche der Welt, die Autoindustrie, mit einem Umsatz von drei Milliarden Dollar weltweit. 1908 leitete Henry Ford das Zeitalter von Automobilen ein, die für die breite Masse erschwinglich waren – das Model T kostete 800 Dollar, was dem damaligen Pro-Kopf-BIP der USA entsprach. China produziert heute Elektroautos mit angemessener Reichweite und Leistung für etwa 10.000 Dollar, was dem chinesischen Pro-Kopf-BIP entspricht. Diese niedrigpreisigen, vollausgestatteten E-Autos könnten bald das untere Segment des europäischen Automarkts dominieren. Der Marktanteil von Volkswagen, einst die meistverkaufte Marke in China, schrumpfte von jährlich 4,2 Millionen Autos vor Beginn der Pandemie auf 3,2 Millionen im Jahr 2022.

Die vierte industrielle Revolution hat, wenig überraschend, in der Automobilindustrie begonnen, wo bereits die meisten Industrieroboter zum Einsatz kommen. Laut unserer Umfrage haben nur drei amerikanische Industrieunternehmen private 5G-Netzwerke in ihren Fabriken installiert – General Motors, Ford und der Landmaschinengigant John Deere.

Nach Angaben des European 5G Observatorys haben etwa sechzig Fabriken, See- und Flughäfen private 5G-Netzwerke installiert, darunter Autobauer wie Volkswagen, Porsche, Saab und Toyota. In China sind laut Huawei aber mehr als 10.000 private 5G-Netzwerke in Betrieb, darunter in 6000 Fabriken. China mag Europa nicht um zwei Grössenordnungen voraus sein, aber wohl doch um eine Grössenordnung.

In einigen Fällen hat die erste Generation chinesischer Anwendungen von KI und 5G die Produktivität um das Zwei- bis Zehnfache erhöht. Der Hafen von Tianjin, der erste vollautomatisierte Hafen der Welt, verwendet smarte Krananlagen und fahrerlose Transportfahrzeuge, um Containerschiffe in 45 Minuten statt wie bisher in acht Stunden zu entladen. Chinas erste vollständig vernetzte Produktionsanlage, die Midea-Haushaltsgerätefabrik in Jingzhou (Provinz Hubei), die 2023 mit Unterstützung von China Mobile und Huawei eröffnet wurde, setzt 5G/KI-Roboter ein, um die Produktion zu verdoppeln.

Wenn Computer der Motor von KI sind, dann sind Daten der Treibstoff. China ist das Saudi-Arabien von Daten.Wenn Computer der Motor von KI sind, dann sind Daten der Treibstoff, und China ist das Saudi-Arabien von Daten, wie Kai-Fu Lee einmal bemerkte. Mit robusten Lieferketten und einem Heer von Facharbeitern – in China werden fünfmal so viele Ingenieure ausgebildet wie in Amerika – hat China einen natürlichen Vorteil bei der Entwicklung und Erprobung von KI-gestützten Produktionsmodellen. Europäische Unternehmen lernen von den Chinesen. Der Industrierobotergigant ABB schloss 2019 eine Partnerschaft mit Huawei zur Anwendung von cloudbasierter KI in verschiedensten Produktions0bereichen.

Die amerikanischen Sanktionen auf hochmoderne Halbleiter und alle für deren Produktion nötigen Geräte mögen für China unangenehm sein, sie sind aber kein unüberwindliches Hindernis für Anwendungen in Produktion und Logistik.

Partnerschaften mit China sind natürlich nicht ohne Risiko. China könnte ausländische Unternehmen ausstechen, wie das in der Automobilbranche bereits passiert ist. Aber das Risiko, in der vierten industriellen Revolution abgehängt zu sein, dürfte viel schwerer wiegen.

Genauso wichtig für Europa ist die Teilhabe des globalen Südens an der Industrie 4.0. In Ländern, in denen die Mehrheit der Bevölkerung im sogenannten informellen Sektor arbeitet, ohne Zugang zu Krediten oder staatlichen Versorgungsleistungen und in Jobs mit geringer Produktivität, kann digitale Infrastruktur einiges bewirken. Breitband verbindet mit globalen Märkten und eröffnet unternehmerische Chancen.

Für Europäer, die nicht ohne Grund eine Flut von Migranten befürchten, vertrieben durch Armut und wirtschaftliche Instabilität, bieten die Möglichkeiten der Industrie 4.0 eine Lösung für Entwicklungsländer. Chinas Ausgaben in Afrika beliefen sich in den vergangenen zwanzig Jahren auf insgesamt 155 Milliarden Dollar. Die vorgesehene US-Hilfe für Afrika beträgt lediglich 8 Milliarden Dollar. Die chinesischen Auslandsinvestitionen beliefen sich zwischen 2011 und 2020 auf 31 Milliarden Dollar, die amerikanischen nur auf 5,7 Millionen Dollar.

Europa kann die Wirtschaft Afrikas nicht allein stabilisieren, und die Präsenz der USA in Afrika ist minimal. Darum hatte der französische Präsident Emmanuel Macron den chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang zum «Gipfel für einen neuen globalen Finanzpakt» am 23. Juni in Paris eingeladen. Sollten die Europäer nicht mit China zusammenarbeiten, riskieren sie ein demografisches Desaster, das sie nicht aus eigener Kraft abwenden können.

Gemeinsame Interessen

Anscheinend ändert sich die Haltung der Europäer gegenüber China: Man sieht eher die Chancen als die Risiken. Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem Ratstreffen Ende Juni auch über China gesprochen. «Trotz der Unterschiede in ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnung haben die Europäische Union und China ein gemeinsames Interesse an konstruktiven und stabilen Beziehungen, die auf Anerkennung der regelbasierten internationalen Ordnung, ausgewogenem Engagement und Gegenseitigkeit beruhen», wie es in einem Resolutionsentwurf heisst, der Politico zugespielt wurde. Und weiter: «Europa hat nicht die Absicht, sich abzukoppeln oder abzuschotten oder eine Politik zu verfolgen, die China schadet oder seinen wirtschaftlichen Fortschritt behindert.»

Uwe Parpart ist Herausgeber der Online-Tageszeitung Asia Times und ehemaliger Asien-Stratege bei der Bank of America in Hongkong.

David P. Goldman ist Wirtschaftsredaktor der Asia Times und war zuvor Leiter des Fixed Income Research bei der Credit Suisse und der Bank of America in New York.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

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