Bei diesem Text handelt es sich um eine aktualisierte Fassung vom Beitrag, der zuerst in der Zeitschrift «Zeitgeschichte im Fokus» erschienen ist. Wir publizierten ihn bereits im November 2023.
Dies ist eine detaillierte Rekonstruktion der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen im März 2022 und der damit verbundenen Vermittlungsversuche des damaligen israelischen Premierministers Naftali Bennett, unterstützt von Präsident Erdogan und Altbundeskanzler Schröder. Sie wurde von General a. D. Harald Kujat und Prof. Hajo Funke erstellt, zwei der Initiatoren des kürzlich vorgestellten Friedensplans für die Ukraine. Und es ist auch im Zusammenhang mit deren Friedensplan, dass diese Rekonstruktion so überaus wichtig ist. Sie lehrt uns, dass wir es uns kein wiederholtes Mal leisten dürfen, Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu verzögern. Die menschliche und militärische Lage in der Ukraine könnte sich dramatisch verschlechtern, mit der zusätzlichen Gefahr, dass es zu einer weiteren Eskalation des Krieges führen könnte. Wir brauchen eine diplomatische Lösung dieses grausamen Krieges – und zwar jetzt!
Es sind hieraus vor allem sechs Punkte hervorzuheben:
Michael von der Schulenburg
Berlin, den 12. Oktober 2023
Im März 2022 hatte es im Zuge von Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Seite ernsthafte Chancen gegeben, den Krieg zu beenden. Die Verhandlungsbereitschaft der Ukraine endete Ende März (vor der Entdeckung der Verbrechen von Butscha) auf Druck einiger Staaten des Westens, den Krieg fortzusetzen statt – wie dies der ukrainische Präsident Selenskyj wollte – ihn zu beenden.
Die Verhandlungen waren Anfang März 2022 durch den israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett vermittelt worden
Naftali Bennett hatte ab der ersten Märzwoche 2022 Vermittlungsbemühungen unternommen. In einem Videointerview vom 4. Februar 2023 mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum[2] sprach er erstmals ausführlich über den Ablauf und das Ende der Verhandlungen. Dieses Videointerview ist Grundlage eines detaillierten Berichts in der Berliner Zeitung vom 6. Februar 2023: «Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Israelischer Ex-Premier sprach erstmals über seine Verhandlungen mit Putin und Selenskyj. Der Waffenstillstand war angeblich zum Greifen nahe.»
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn, Bennett, nach Ausbruch des Krieges gebeten, Wladimir Putin zu kontaktieren.
«Am 5. März 2022 war Bennett auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau geflogen. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet. Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbass und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen.» (Ebd)
Bennett: «Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten grosses Interesse an einem Waffenstillstand hatten.» Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Grossbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. (Ebd)
Anfang März 2022 kontaktierte Präsident Selenskyj nicht nur Naftali Bennett, sondern auch den deutschen Altbundeskanzler Gerhard Schröder und bat ihn, seine engen persönlichen Verbindungen zu Putin zu nutzen, um zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln und Wege zu finden, wie dieser Krieg schnell beendet werden könnte. In einem am 21./22. Oktober dieses Jahres erschienen Interview in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung sprach Schröder das erste Mal öffentlich über seine Rolle in den Bemühungen, die zu den Friedensverhandlungen am 29. März 2022 in Istanbul führten. Wie Bennet kam auch er zu dem Schluss, dass der Grund, warum diese Friedensverhandlungen nicht zum Ziel führten, darin lag, dass sich die Amerikaner querstellten. Wörtlich sagte er: «Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umjerow [damals Sicherheitsberater von Selenskyj, heute ukrainischer Verteidigungsminister] haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie es nicht durften. Die mussten bei allem, was sie berieten, erst bei den Amerikanern nachfragen.» Und dann noch einmal: «Doch am Ende [der Friedensverhandlungen] passierte nichts. Mein Eindruck: Es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden. Das war fatal.»
Bereits zuvor hatte sich der damalige türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu in ähnlicher Weise geäussert. In einem Interview mit CNN Türk am 20. April 2022 sagte er: «Einige Nato-Staaten wollten, dass der Ukraine-Krieg weitergeht, um Russland zu schwächen.»
Parallel liefen ukrainisch-russische Friedensverhandlungen
Seit Ende Februar 2022 wurden direkte Verhandlungen zwischen einer ukrainischen und einer russischen Delegation geführt, die sich in der dritten Märzwoche, «also nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt (haben): Die Ukraine versprach, der Nato nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen, während Russland im Gegenzug versprach, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbass und die Krim gab es Sonderregelungen.» (Vgl. Michael von der Schulenburg: «UN-Charta: Verhandlungen!» In: Emma vom 6. März 2023)..
Während der vom türkischen Präsidenten Erdogan vermittelten Verhandlungen legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das zum Istanbuler Kommuniqué, führte. Die Vorschläge der Ukraine wurden von der russischen Seite in einen Vertragsentwurf umgesetzt.
Das Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022 im Wortlaut[3]:
Vorschlag 1: Die Ukraine erklärt sich selbst zu einem neutralen Staat und verspricht, blockfrei zu bleiben und auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten – im Gegenzug für internationale rechtliche Garantien. Zu den möglichen Garantiestaaten gehören Russland, Grossbritannien, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel, aber auch andere Staaten wären willkommen, dem Vertrag beizutreten.
Vorschlag 2: Diese internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine würden sich nicht auf die Krim, Sewastopol oder bestimmte Gebiete im Donbass erstrecken. Die Vertragsparteien müssten die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Partei diese Grenzen unterschiedlich versteht.
Vorschlag 3: Die Ukraine verpflichtet sich, keiner Militärkoalition beizutreten und keine ausländischen Militärstützpunkte oder Truppenkontingente aufzunehmen. Jegliche internationale Militärübungen wären nur mit Zustimmung der Garantiestaaten möglich. Die Garantiestaaten bestätigen ihrerseits ihre Absicht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu fördern.
Vorschlag 4: Die Ukraine und die Garantiestaaten kommen überein, dass (im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine oder einer Militäroperation gegen die Ukraine) jeder der Garantiestaaten nach dringenden und sofortigen gegenseitigen Konsultationen (die innerhalb von drei Tagen stattfinden müssen) über die Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (wie in Artikel 51 der UN-Charta anerkannt) (als Reaktion auf einen offiziellen Appell der Ukraine und auf dessen Grundlage) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten wird. Diese Hilfe wird durch die sofortige Durchführung der erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Massnahmen erleichtert, einschliesslich der Schliessung des ukrainischen Luftraums, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und der Anwendung bewaffneter Gewalt mit dem Ziel, die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat wiederherzustellen und dann zu erhalten.
Vorschlag 5: Jeder derartige bewaffnete Angriff (jede militärische Operation überhaupt) und alle daraufhin ergriffenen Massnahmen werden unverzüglich dem UN-Sicherheitsrat gemeldet. Diese Massnahmen werden eingestellt, sobald der UN-Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen ergriffen hat.
Vorschlag 6: Zum Schutz vor möglichen Provokationen wird das Abkommen den Mechanismus zur Erfüllung der Sicherheitsgarantien der Ukraine auf der Grundlage der Ergebnisse von Konsultationen zwischen der Ukraine und den Garantiestaaten regeln.
Vorschlag 7: Der Vertrag gilt vorläufig ab dem Datum seiner Unterzeichnung durch die Ukraine und alle oder die meisten Garantiestaaten.
Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem (1) der dauerhaft neutrale Status der Ukraine in einem landesweiten Referendum gebilligt wurde, (2) die entsprechenden Änderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurden und (3) die Ratifizierung in den Parlamenten der Ukraine und der Garantiestaaten erfolgt ist.
Vorschlag 8: Der Wunsch der Parteien, die Fragen im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol zu lösen, wird für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren in bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland eingebracht. Die Ukraine und Russland verpflichten sich ausserdem, diese Fragen nicht mit militärischen Mitteln zu lösen und die diplomatischen Lösungsbemühungen fortzusetzen.
Vorschlag 9: Die Parteien setzen ihre Konsultationen (unter Einbeziehung anderer Garantiestaaten) fort, um die Bestimmungen eines Vertrags über Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Modalitäten der Waffenruhe, den Rückzug von Truppen und anderen paramilitärischen Verbänden und die Öffnung und Gewährleistung sicher funktionierender humanitärer Korridore auf kontinuierlicher Basis sowie den Austausch von Leichen und die Freilassung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten vorzubereiten und zu vereinbaren.
Vorschlag 10: Die Parteien halten es für möglich, ein Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands abzuhalten, um einen Vertrag zu unterzeichnen und/oder politische Beschlüsse zu anderen ungelösten Fragen zu fassen.
Offensichtliche Unterstützung der Vermittlungsbemühungen durch westliche Politiker
Die Tatsache der Unterstützung der Verhandlungen durch westliche Politiker ergibt sich aus der Abfolge der Telefonate und Treffen in der Zeit von Anfang März bis mindestens Mitte März. Am 4. März telefonierten Scholz und Putin; am 5. März traf Bennett Putin in Moskau; am 6. März trafen sich Bennett und Scholz in Berlin; am 7. März besprachen sich die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland in einer Videokonferenz zum Thema; am 8. März telefonierten Macron und Scholz; am 10. März trafen sich der ukrainische Aussenminister Kuleba und der russische Aussenminister Lawrow in Ankara; am 12. März telefonierten Scholz und Selenskyj sowie Scholz und Macron, und am 14. März trafen sich Scholz und Erdogan in Ankara. (Vgl. Petra Erler: «Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte», in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin», 1. September 2023)
Nato-Sondergipfel vom 24. März 2022 in Brüssel
Michael von der Schulenburg, der ehemalige UN Assistant Secretary-General (ASG) in UN-Friedensmissionen, schreibt, dass «die Nato bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen (zwischen der Ukraine und Russland) nicht zu unterstützen.» (Vgl. Michael von der Schulenburg: «UN-Charta: Verhandlungen!» In: Emma vom 6. März 2023). Zu diesem Sondergipfel war der US-Präsident eigens eingeflogen. Offenkundig war ein Frieden, wie er von den russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen ausgehandelt worden war, nicht im Interesse einiger Nato-Staaten.[4]
Selenskyj widerspricht
«Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen – und das, obwohl die Nato bereits an 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen nicht zu unterstützen.» (Ebd)
Nach von der Schulenburg hatte es sich bei den russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen um eine historisch einmalige Besonderheit gehandelt, die nur möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und die «gleiche Sprache sprechen».[5]
Am 28. März erklärte Putin als ein Zeichen des guten Willens die Bereitschaft, Truppen aus dem Raum Charkiw und dem Raum Kiew abzuziehen; dies geschah offenkundig bereits vor dieser öffentlichen Erklärung.
Die Absage an Selenskyj und Putin
Am 29. März 2022 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Haltung wichtiger westlicher Bündnispartner verhärtet. Sie formulierten im Gegensatz zum Vorgehen von Bennett und Erdogan Vorbedingungen für Verhandlungen: «Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung […] zu ermöglichen.» (Petra Erler: «Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte», in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin» 1. September 2023)
Die Washington Post berichtete am 5. April, dass in der Nato die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: «Für einige in der Nato ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben, als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.» Selenskyj solle «so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist».
Boris Johnson am 9. April 2022: Wir führen den Krieg weiter
Am 9. April 2022 traf Boris Johnson unangemeldet in Kiew ein und erklärte dem ukrainischen Präsidenten, dass der Westen nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Laut britischem Guardian vom 28. April hatte Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj «angewiesen», «keine Zugeständnisse an Putin zu machen».
Darüber berichtete die Ukrajinska Prawda am 5. Mai 2022 in zwei Beiträgen ausführlich:
Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramowitsch/Medinskyj nach den Ergebnissen von Istanbul auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens in groben Zügen geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.
Johnson brachte zwei einfache Botschaften mit nach Kiew. Die erste lautete, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei; man solle Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautete, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, es der kollektive Westen aber nicht sei: «Wir können [ein Abkommen] mit Ihnen [der Ukraine] unterzeichnen, aber nicht mit ihm. Er wird sowieso alle über den Tisch ziehen», fasste einer der engen Mitarbeiter Selenskyjs den Kern des Besuchs von Johnson zusammen. Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur die Abneigung, sich auf Abkommen mit Russland einzulassen. Johnson vertrat den Standpunkt, dass der kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen, nun das Gefühl hatte, dass Putin nicht wirklich so mächtig war, wie sie es sich zuvor vorgestellt hatten. Darüber hinaus bestand eine Chance, ihn «unter Druck zu setzen». Und der Westen wollte sie nutzen. [6]
Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setze. Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: «Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen.» Die britische Aussenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der «Sieg der Ukraine […] für uns alle eine strategische Notwendigkeit» sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse. Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: «Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen». Dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, «der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird». Johnson und Truss wollten, dass Selenskyj «so lange weiterkämpft, bis Russland vollständig besiegt ist. Sie brauchen einen Triumph in ihrem Stellvertreterkrieg. In der Zwischenzeit kann jeder, der nicht ihrer Meinung ist, als Schwächling, Feigling oder Putin-Anhänger abgetan werden. Dass dieser Konflikt von Grossbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig.»
Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich zu schwächen.[7] Laut New York Times geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf über die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges.
Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der Nato-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April 2022 gab der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor.[8]
Die amerikanische Zeitschrift Responsible Statecraft schrieb am 2. September 2022:
Hat Boris Johnson geholfen, ein Friedensabkommen in der Ukraine zu verhindern? Gemäss einem kürzlich in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienenen Artikel haben Kiew und Moskau möglicherweise bereits im April eine vorläufige Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen. Russland und die Ukraine könnten sich bereits im April auf ein vorläufiges Abkommen zur Beendigung des Krieges geeinigt haben, heisst es in einem kürzlich erschienenen Artikel in Foreign Affairs. «Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im März 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben», schreiben Fiona Hill und Angela Stent. Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Region Donbass und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine Nato-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten. Die Entscheidung, das Abkommen scheitern zu lassen, fiel mit Johnsons Besuch in Kiew im April zusammen, bei dem er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj drängte, die Gespräche mit Russland aus zwei wesentlichen Gründen abzubrechen: Mit Putin kann man nicht verhandeln, und der Westen ist nicht zu einem Ende des Krieges bereit.[9]
Der Autor stellt in seinem Beitrag Fragen, die im weiteren Verlauf des Krieges immer grössere Bedeutung gewonnen haben:
«Diese offensichtliche Enthüllung wirft einige wichtige Fragen auf: Warum wollten die westlichen Führer Kiew davon abhalten, ein offenbar gutes Verhandlungsergebnis mit Moskau zu unterzeichnen? Betrachten sie den Konflikt als einen Stellvertreterkrieg mit Russland? Und vor allem: Was wäre nötig, um wieder zu einem Verhandlungsergebnis zurückzukehren?» [10]
In seiner Ankündigung der Teilmobilmachung erklärte Putin am 21. September 2022:
«Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äusserten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. Diese Vorschläge betrafen vor allem die Gewährleistung der Sicherheit und Interessen Russlands. Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach der Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichtezumachen.» [11]
Anlässlich des Besuchs einer afrikanischen Friedensdelegation am 17. Juni 2023 zeigte Putin die in Istanbul ad referendum akzeptierte und paraphierte Vereinbarung demonstrativ in die Kameras.
Fazit: Vertane Chance
Anhand der öffentlich zugängigen Berichte und Dokumente ist nicht nur nachvollziehbar, dass es im März 2022 eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft sowohl der Ukraine als auch Russlands gab. Offensichtlich einigten sich die Verhandlungspartner sogar ad referendum auf einen Vertragsentwurf. Selenskyj und Putin waren zu einem bilateralen Treffen bereit, bei dem das Verhandlungsergebnis finalisiert werden sollte. Die Tatsache, dass die wesentlichen Verhandlungsergebnisse auf einem Vorschlag der Ukraine beruhten, Selensykyj diese noch am 27. März 2022 gegenüber russischen Journalisten sehr positiv bewertete und sich bereits zuvor in ähnlicher Weise geäussert hatte, belegt, dass der Ausgang der Istanbuler Verhandlungen durchaus den ukrainischen Interessen entsprach. Umso schwerer wiegt die westliche Intervention, die ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte. Die Verantwortung Russlands für den völkerrechtswidrigen Angriff wird nicht dadurch relativiert, dass die Verantwortung für die in der Folge entstandenen schwerwiegenden Konsequenzen für die Ukraine und deren westliche Unterstützer auch den Staaten zuzurechnen ist, die die Fortsetzung des Krieges verlangt haben. Der Krieg hat nun ein Stadium erreicht, in dem eine weitere gefährliche Eskalation und eine Ausweitung der Kampfhandlungen nur durch einen Waffenstillstand verhindert werden kann, der vielleicht zum letzten Mal eine friedliche Lösung durch Verhandlungen ermöglicht. Es gibt Friedensvorschläge von China, der Afrikanischen Union, Brasilien, Mexiko, Indonesien, einen auf Einladung des Vatikans entwickelten Vorschlag sowie einen von deutschen Experten vorgeschlagenen Weg zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.[12] Der Verlauf des Krieges seit den gescheiterten Istanbul-Verhandlungen und der gegenwärtig äusserst kritische Zeitpunkt sollten den verantwortlichen Staaten Anlass genug für ein Umdenken sein.
[1] Unter Einbezug von Gesprächen mit Michael von der Schulenburg und Hilde Schramm. Die ausführliche Version findet sich demnächst in https://hajofunke. wordpress.com/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs; vgl auch ARD vom 17. Februar 2023 und Tagesspiegel vom 10. Februar 2023)
[3] Eigene Übersetzung aus der uns zugänglich gemachten englischen Version: Vgl. Farida Rustamova vom 29. März 2022 nach einem Link aus Sabine Fischer: «Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible.» SWP-Aktuell 2022/A 66, 28. Oktober 2022. «This is an English translation of this article, kindly made by Kevin Rothrock from Meduza»).
[4] Nato, 24. März 2022: Statement by NATO Heads of State and Government. «We condemn Russia’s invasion of Ukraine in the strongest possible terms. We call on President Putin to immediately stop this war and withdraw military forces from Ukraine, and call on Belarus to end its complicity, in line with the Aggression Against Ukraine Resolution adopted at the UN General Assembly of 2 March 2022. Russia should comply with the 16 March ruling by the UN International Court of Justice and immediately suspend military operations. Russia’s attack on Ukraine threatens global security. Its assault on international norms makes the world less safe. President Putin’s escalatory rhetoric is irresponsible and destabilizing.»
[5] Vgl. auch: https://chasfreeman.net/the-many-lessons-of-the-ukraine-war/; siehe Annex 2
[6] Vgl. Ukrajinska Prawda, 5. Mai 2022: Von Selenskyjs «Kapitulation» zu Putins Kapitulation: Wie die Verhandlungen mit Russland verlaufen.
[7] Vgl. Tagesschau vom 25. April 2022: «Austin hält Sieg der Ukraine für möglich. Nach Einschätzung Austins kann die Ukraine die russischen Streitkräfte mit ausreichend militärischer Unterstützung sogar besiegen. ‹Sie können gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung haben›, sagte Austin. Der erste Schritt zum Sieg sei der Glaube daran, gewinnen zu können, so der US-Verteidigungsminister weiter.»
[8] NYT, 25. April 2022: «Behind Austin’s Call for a ‹Weakened› Russia, Hints of a Shift. The United States is edging toward a dynamic that pits Washington more directly against Moscow, and one that U.S. officials see as likely to play out for years.» «Emboldened by Ukraine’s Grit, U.S. Wants to See Russia Weakened. Hours after the American secretaries of defense and state met with Ukraine’s president in Kyiv, Russia hit at least five Ukrainian railway stations in rocket attacks.»
[10] ebd.
[11] http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
12] Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/sonderausgabe-vom-28-august-2023.html
Ich hoffe, dass ein solcher Bericht Eingang findet bei Friedensverhandlungen. Vielen Dank für die Bemühungen.Solche Berichte bringen mehr als Bürgenstockgespräche.
Eine Analyse westlicher Medienberichte von der ukrainischen Front zeige, dass Journalisten aus dem Westen zunehmend Nazi-Symbole auf ukrainischer Ausrüstung präsentierten. Auch die ukrainischen Militärs schmückten sich gerne mit solchen Symbolen. Dies schreibt das amerikanische Military Watch Magazine. Es wird zudem festgestellt, dass derartige Vorkommnisse sogar unter den ukrainischen Soldaten zu finden seien, die zur Ausbildung in NATO-Länder kommen würden.
Die USA, bzw. der Westen hat sich selbst überflüssig gemacht. Es gibt so viele Länder die sehr schlechte Erfahrungen mit dem Westen gemacht haben, dass es keinen Grund mehr gibt für diesen etwas zu tun. Die Zeit ist nun gekommen, wo die Arroganz und Selbstherrlichkeit zu Ende ist. Die westlichen Länder werden an ihrer eigenen schwachen Ideologie zugrunde gehen und es wird niemanden mehr interessieren. Die Kolonial-und Versklavungszeiten sind vorbei. Der Weisse gehört in die unterste Schublade.