Was in einer kleinen Stadt mitten in Deutschland passiert, ist selten von nationaler Bedeutung. Doch manchmal kann das, was in einer kleinen Stadt mitten in Deutschland passiert, ein Schlaglicht darauf werfen, was im ganzen Land im Argen liegt und die Bürger auf die Barrikaden treibt.

Nordhausen in Thüringen am Südhang des Harzes liegt fast genau in der Mitte Deutschlands, nicht weit vom geografischen Zentrum des Landes entfernt. Nur rund 40.000 Einwohner zählt das beschauliche Städtchen, und doch machte es unlängst bundesweit Schlagzeilen.

 

Noch so ein Zufall

Denn beim ersten Wahlgang der für das Amt des Oberbürgermeisters erreichte der Kandidat der Alternative für Deutschland (AfD) aus dem Stand 42,1 Prozent der Stimmen. Er hat nun die besten Chancen, bei der Stichwahl am 24. September den parteilosen Amtsinhaber Kai Buchmann zu schlagen, der nur auf 23,7 Prozent kam. Es wäre das dritte Mal seit Juni, dass ein AfD-Politiker ein kommunales Spitzenamt an der Urne erobert. Die AfD stellt einen Landrat in Thüringen und einen Bürgermeister in Sachsen-Anhalt.

Doch dieser Wahlerfolg ist es nicht, der Nordhausen zu einem Modellfall für das marode politische System im Parteienstaat Deutschland macht. Vielmehr sind es die Kungeleien, die Intrigen und die Durchstechereien der etablierten Parteien, wie sie auf allen politischen Ebenen stattfinden und die dem Wähler zunehmend sauer aufstossen. In einer Kleinstadt präsentieren sich derlei Vorgänge nur übersichtlicher. Wie unter dem Mikroskop lassen sie sich hier besser sezieren.

Treibende Kraft des Intrigenspiels, gleichsam die Lady Macbeth von Nordhausen, ist Alexandra Rieger, sozialdemokratisches Mitglied des Stadtrates und von diesem Gremium zur sogenannten Ersten Beigeordneten gewählt, der ersten stellvertretenden Bürgermeisterin. Das muss man wissen, um den nächsten Schritt der ehrgeizigen Lokalpolitikerin zu verstehen. Denn im Frühjahr wurde ein Disziplinarverfahren gegen Oberbürgermeister Buchmann eingeleitet, der 2017 mit 66,2 Prozent der Stimmen gewählt worden war. Insgesamt vierzehn Dienstpflichtverletzungen wurden ihm vorgeworfen. Am schwersten wiegt der Vorwurf des Mobbings – von Alexandra Rieger. Seit Amtsantritt sei er ihr «mit mangelnder Kollegialität und unprofessionellem Führungsstil begegnet».

Im vergangenen März wurde Buchmann vorübergehend vom Amt suspendiert – «um mögliche Schadensersatzansprüche gegen die Stadt abzuwenden». Zuständig für die Amtsenthebung ist der Landrat des Kreises. Matthias Jendricke ist, so ein Zufall, ein SPD-Genosse Riegers. Und – noch so ein Zufall – die beiden kennen sich schon aus der Zeit, als Rieger selber im Landratsamt wirkte. Kein Zufall, sondern die Gemeindeordnung schreibt dann den nächsten Schritt vor: Die erste Stellvertreterin Rieger tritt an die Stelle des suspendierten OB. Mission accomplished, Teil eins.

Alles schien perfekt eingefädelt, inklusive des Timings für die reguläre nächste Oberbürgermeisterwahl im September. Der populäre Amtsinhaber ein halbes Jahr vorher ausser Gefecht gesetzt und diskreditiert, die SPD-Politikerin ohne Wählervotum auf dem Chefsessel installiert und damit in die Pole-Position gebracht für den kommenden Wahlkampf.

Doch dann entgleiste die vermeintliche Schnellbahn unversehens. Das Verwaltungsgericht gab einer Klage Buchmanns recht und hob seine Suspendierung auf. Einen prompt dagegen abgefeuerten Einspruch des Landratsamtes schossen die Richter ebenfalls ab. Im -August musste Rieger das Chefbüro räumen; Buchmann kehrte in sein Amt zurück für die letzten Wochen bis zum Wahltag.

 

Berlin rätselt

So weit der traurige Normalfall, wenn sich den Bürgern von Nordhausen nicht eine Alternative geboten hätte – in Gestalt von Jörg Prophet, dem Fraktionsvorsitzenden der Alternative in Stadt- und Kreisrat. Seine Kandidatur befeuerte und belebte Wähler und den Wahlkampf. Die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang stieg von 46 auf 56 Prozent, und Prophet, ein erfolgreicher Unternehmer, zog an allen Konkurrenten vorbei. Rieger, die für die SPD antrat, landete mit 18 Prozent auf dem aussichtslosen dritten Platz. Fraglich, ob sie in der Wahl eine Empfehlung für Buchmann abgeben wird, von dem sie sich doch gemobbt fühlte. Die Wahl von Prophet scheint damit sicher.

In Berlin wird von Medien und Politik über die Gründe des unaufhaltsamen Aufstiegs der AfD gerätselt. Ein Blick von der Metropole in die Provinz würde wohl bei der Antwort helfen. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der die alten Parteien den Staat als ihre Beute betrachten. Dort oben und hier unten.