Dieser Text erschien zuerst auf den Online-Portalen Publico und Tichys Einblick.

Erinnerungspolitik gehört zu den Feldern, auf denen sich viele zu schaffen machen. Denn dafür braucht es weder Vor- noch überhaupt irgendwelche Kenntnisse. Ein Twitter-Account reicht.

Sowohl Bundesfamilienministerin Lisa Paus als auch der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz entwickelten die politische Geschichtsschreibung mit diesem Instrument ganz wesentlich weiter. Nachdem die AfD-Vorsitzende Alice Weidel erklärte, sie sei der Einladung in die russische Botschaft am 9. Mai nicht gefolgt, weil sie die Niederlage Deutschlands nicht an der Seite dieser früheren Besatzungsmacht feiern wollte, beschloss der Grünen-Politiker, das Gegenteil müsste richtig sein. Und noch ein bisschen mehr als das.

«Der Versuch der AfD-Vorsitzenden, die Befreiung Deutschlands von der NS-Diktatur durch die Alliierten als Niederlage umzudeuten», schrieb von Notz, «ist ein weiterer Schritt der AfD, sich völlig offen gegen die Werte unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stellen.»

Nach Ansicht des Abgeordneten gibt es in dieser Frage also nicht einfach zwei oder mehrere Sichtweisen, wobei er die von Weidel für falsch hält, sondern nur eine einzige überhaupt mögliche Erzählung, die er ohne nähere Begründung aus der Verfassung ableitet.

Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 8. und der restlichen Heeresgruppe Süd am 9. Mai 1945 markiert für ihn also erstens einen Akt der Befreiung ohne jede Ambivalenz. Und zweitens entlarvt sich jeder als Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der darin eine Niederlage sieht. Ob ganz und gar eine Niederlage oder auch eine Niederlage, auf diese Feinheiten kommt es bei ihm so wenig an wie auf die Geschichte selbst.

Im Zusammenhang mit den Stern-Tagebüchern – ältere Leser entsinnen sich – fiel 1983 der Satz, die deutsche Geschichte müsse jetzt in grossen Teilen umgeschrieben werden. Unser wohlgesinnter Politiker schafft das in acht Zeilen auf X, vormals Twitter. In der Chronik nach Notz handelte es sich bei den allermeisten Deutschen im Mai 1945 um Opfer, die von der geringen Zahl ihrer nationalsozialistischen Unterdrücker befreit werden mussten – und das von vier weltanschaulich nicht gerade gleichgearteten Mächten, mit denen sich die allermeisten Deutschen nach dem Befreiungstag trotzdem in bestem Einvernehmen befanden.

Wo sich keine Niederlage ereignete, gab es folglich auch keine Siegermächte. Und die Befreiung brachte den Deutschen in München und Kassel die gleiche Freiheit wie denen in Magdeburg und Rostock. Der gesamte Zweite Weltkrieg produzierte in von Notz’ Variante zwar eine Menge Kohlendioxid und toxische Männlichkeit, besass aber alles in allem den Charakter der weiterentwickelten Bundesjugendspiele, die neuerdings auch keine Gewinner und Verlierer mehr kennen, sondern nur noch Beteiligte.

Mit dem, was ein Konstantin von Notz nicht weiss, liessen sich Bibliotheken füllen. Deshalb ahnt er nicht, wie nah er mit seinem Geschichtsersatz der offiziellen DDR-Historiografie kommt, die den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärte, nämlich der Befreiung eigentlich nur der Ostdeutschen von Hitler, dessen Paladinen und dem Monopolkapital durch die Sowjetarmee. Der Defa-Propagandafilm «Du und mancher Kamerad» nach dem Drehbuch von Karl-Eduard von Schnitzler erklärte dem Publikum in der DDR die Geschichte 1956 exakt nach diesem Muster. Die deutschen Soldaten in beiden Weltkriegen und überhaupt die Normalbürger – also eigentlich fast alle – wurden von Monopolherren und Junkern verführt und verhetzt. Auf der über alle Zweifel erhabenen Seite standen von Anfang an nur die Kommunisten, die nach 1945 endlich zusammen mit den sowjetischen Instrukteuren den eigentlich schuldlosen und nur verirrten Massen den Weg in eine bessere Zukunft wiesen, im Gegensatz zu den Menschen im Westen, der noch auf seine wahre Befreiung warten musste.

Um diese Geschichte zu untermauern, dachten sich die DDR-Propagandisten die Formel von den «Siegern der Geschichte» aus, zu denen sie alle erklärten, die sich loyal zur neuen Staatsmacht verhielten, die ihre Funktionselite zu einem nicht geringen Teil aus Kadern des NS-Staats rekrutierte. Für Karrieren dieser Art stehen stellvertretend der DDR-Plankommissionschef Erich Apel, vormals einer der Entwicklungsingenieure für die V2 erst in Peenemünde, wo KZ-Gefangene die Montagearbeit verrichten mussten, später dann in der Nähe des KZ Mittelbau-Dora, und der erste DDR-Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, Träger der «Treuemedaille des Führers», 1944 zum Reichsgerichtsrat am Reichsgericht befördert.

Die östliche Geschichtserfindung nach 1949 machte es möglich, dass sich anpassungsfähige Funktionäre wie Apel und Melsheimer als Sieger der Geschichte auf der Seite des Fortschritts fühlen konnten, während die Arbeiter, die sich am 17. Juni 1953 gegen die SED erhoben, in der gleichen Orthodoxie als Teilnehmer eines faschistischen Putsches galten, selbst dann, wenn sie damals noch zu jung waren, als dass sie vor 1945 eine Waffe und eine Uniform hätten tragen können. Der aus verschiedenen Gründen problematische, aber in NS-Hinsicht unverdächtige DDR-Schriftsteller Stephan Hermlin spottete einige Jahre vor dem Mauerfall, mit der Formel von den Siegern der Geschichte hätte die offizielle Propaganda ihren Staatsbürgern einreden wollen, bei der DDR handle es sich um die fünfte Macht der Alliierten im Kampf gegen Hitler.

Bei Familienministerin Lisa Paus klingt es ähnlich wie bei von Notz, nur mit einem passenden Dichterzitat angereichert:

«Weidel stellt die Befreiung von Nazi-Deutschland durch die Alliierten als Niederlage Deutschlands dar. Dazu fällt mir ein Brecht-Zitat ein: ‹Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.› Oder kurz gesagt: #NiewiederFaschismus.»

Bei ihr herrscht wie bei ihrem Parteikollegen eine strenge Trennung zwischen Nazideutschland und einem Deutschland 1945, das ohne Niederlage davonkam. Mit etwas Literaturkenntnis wären ihr womöglich gerade noch rechtzeitig vorm Twittern die Zeilen des Dialektikers Brecht aus der «Kriegsfibel» in den Kopf gekommen, die er zu einem Foto von Wehrmachts-Stahlhelmen schrieb:

«Seht diese Hüte von Besiegten! Und nicht als man sie vom Kopf uns schlug zuletzt, war unsrer bittern Niederlage Stund. Sie war, als wir sie folgsam aufgesetzt.»

Obwohl Emigrant, benutzte Brecht ein lyrisches Wir. Sein Vers kommt der Formel des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sehr nah, am 8. Mai 1945 sei Deutschland sowohl «erlöst als auch vernichtet» worden. Diese Dialektik hielt im Westen mehrere Jahrzehnte – bis zu der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, der den Akzent auf «Befreiung» verschob. Allerdings nicht so wie Notz oder Paus, die auf die Weizsäcker-Rede verweist, offenbar ohne sie gelesen zu haben.

Dort heisst es: «Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.» Und: «Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.»

Er unterschied in seiner Ansprache auch zwischen der Bundesrepublik und der DDR, in der auf eine Diktatur die nächste gefolgt war. Dieser Punkt fehlt übrigens in der Notz-Paus-Restle-Geschichtsschreibung völlig. Nach ihrer Doktrin, alle Deutschen müssten den 8. Mai ausschliesslich als Befreiung sehen (und hätten ihn eigentlich schon unmittelbar nach 1945 so sehen müssen), verliess selbst Weizsäcker bereits 1985 den Boden der einzig zulässigen Geschichtsdeutung.

Brecht und Heuss wussten wie der damalige Bundespräsident das Selbstverständliche, nämlich, dass damals nur die allerwenigsten die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht als Befreiung empfanden. Das traf für die Insassen der Lager zu, sicherlich auch für etliche junge Soldaten, die sich nicht mehr verheizen lassen mussten. Aber die übergrosse Mehrheit und längst nicht nur gläubige Nationalsozialisten erlebten den Zusammenbruch des Deutschen Reichs und seine Besetzung als Katastrophe. Der Satz Heinrich Bölls, den der ARD-Redakteur Georg Restle, geboren 1965, der Öffentlichkeit entgegenhält, stammt aus dessen erst 1984 entstandenem Text «Brief an meine Söhne oder vier Fahrräder», in dem er vor allem erzählt, wie er selbst das Kriegsende erlebte (das für ihn mit seiner Gefangennahme schon am 9. April kam). An keiner Stelle dekretiert der ansonsten dem Moralisieren nicht abgeneigte Autor, jeder müsse sich unabhängig von seiner eigenen Lage befreit gefühlt haben.

Hier liegt der zentrale Punkt der neuartigen Geschichtspolitik per Twitter und passend ausgeschnittenem Zitat: Erinnerungen der Beteiligten spielen darin keine Rolle mehr. Auch keine authentischen Zeugnisse. Beide fallen zwangsläufig ambivalent aus. Bei dem, was gerade entsteht, handelt es sich im Gegenteil um eine Anti-Erinnerungspolitik, mit der Wohlmeinende eine Vergangenheit konstruieren, die es nie gab. Sie verlangen von der Gesellschaft, diese Konstruktion wie ein Glaubensbekenntnis nachzusprechen. Das, was der Historiker Egon Flaig einmal Fake History nannte, verdrängt in Deutschland allmählich die Geschichtsschreibung.

Die Festlegung, nur ein nicht näher beschriebenes «Nazideutschland», das mit dem eigentlichen Deutschland nichts zu tun habe, habe eine Niederlage erlitten, und das Gebot, der 8. Mai 1945 habe ausschliesslich als Befreiungstag zu gelten, fügen sich in eine ganze Reihe ähnlicher Geschichtserfindungen. Die Erzählung, türkische Gastarbeiter hätten Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut oder zumindest beim Aufbau geholfen, besitzt mittlerweile fast einen offiziellen Status. Das Wirtschaftswunder, meinte die SPD-Politikerin Aydan Özoguz über die Gastarbeiter, wäre «sicherlich ohne ihre Mithilfe nicht vollendet worden». Ihr höchstes Wachstum erreichte die westdeutsche Nachkriegswirtschaft 1955, das Jahr, in dem der millionste Käfer vom Band rollte. Spätestens 1960 endete die Wiederaufbauphase, die Historiker als Wirtschaftswunder bezeichnen, das erste Anwerbeabkommen mit der Türkei schloss Deutschland jedoch erst 1961. Diese Daten kommen kaum noch an gegen die kontrafaktische Erzählung von den türkischen Migranten, «die dieses Land mit aufgebaut haben nach dem Zweiten Weltkrieg» (Kulturministerin Claudia Roth, Grüne). In einem Text der Heinrich-Böll-Stiftung zum sechzigsten Jahrestag des Anwerbeabkommens 2021 heisst es sogar: «Sie haben nicht nur den Industriestaat Deutschland mitaufgebaut.»

Eine ganze Reihe anderer Geschichtskonstrukteure bemüht sich darum, die DDR in ein weiches Licht zu tauchen, allen voran Katja Hoyer, 1985 in Guben geboren, die seit Jahren in England lebt. Von dort aus erklärt sie mit dem Anspruch einer Historikerin die DDR oder vielmehr ein Land, das ihrer Vorstellung nach so existiert haben musste. «Das Leben war im Grunde recht angenehm», schreibt Hoyer, was für sie und ihre Eltern – NVA-Offizier und Lehrerin – vermutlich stimmte, für viele andere aber nicht. Diese anderen interessieren sie schlicht nicht; in ihrem Buch kommen keine Bespitzelten vor, keine früheren politischen Häftlinge, keine Zwangsadoptierten. Als prominente Gesprächspartner und Kronzeugen führt sie Egon Krenz und den rundum privilegierten Schlagersänger Frank Schöbel ein. Ihr Buch enthält so ziemlich jedes Klischee, das die westdeutschen Linken von dem angeblich besseren Deutschland pflegten: vorbildliche Frauenförderung, fürsorgliche Sozialpolitik, unerschütterlicher Internationalismus, «Antifaschismus als Gründungsdogma». Die grosse Riege früherer Nationalsozialisten im DDR-Apparat ignoriert sie genauso wie alles andere, was nicht in ihre Pastellzeichnung passt. Mangelwirtschaft? War nicht so gravierend und überwiegend Schuld des Westens. Der Aufstand am 17. Juni 1953 wurde «vom Westen gefördert», um «weitere Unruhe zu schüren».

Davon, dass die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam und Angola sich ihren Arbeitsplatz nicht selbst aussuchen durften, Teile ihres Einkommens abliefern und in Sammelunterkünften leben mussten, will die angebliche Historikerin nichts wissen. Die Vertragsarbeiter, behauptet sie, seien «weder aufgrund schierer wirtschaftlicher Notwendigkeit ins Land geholt» worden noch von der einheimischen Bevölkerung isoliert gewesen, «wie man gelegentlich behauptet».

Vor allem im öffentlich-rechtlichen Rundfunk überschlugen sich die Medienschaffenden geradezu vor Begeisterung über Hoyers alternative Geschichtsschreibung, die sie als britischen Reimport anpreisen. Die Leser des englischen Originals, schwärmte etwa der RBB, «staunen dann, wie die das da drüben gemacht haben mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Welch gigantische Wohnungsbauprogramme das kleine Land aus dem Boden gestampft hat. Na klar, für uns Deutsche ist das ein alter Hut. Hier aber werden solche Errungenschaften nun britisch pragmatisch und erstaunlich unideologisch auf Vor- und Nachteile abgeklopft». In der ARD-Sendung «Titel Thesen Temperamente» las sich der Werbespruch für Hoyers Werk so: «Oft werde dabei der Fokus auf die Verfehlungen der Diktatur gerichtet und übersehen, dass die meisten der sechzehn Millionen Einwohner der DDR ein relativ friedliches Leben mit alltäglichen Problemen, Freuden und Sorgen führten.» Dass diese Deutschen sich 1945 befreit fühlten, versteht sich von selbst.

In einem vollkommen kritikfreien Interview will eine «Tagesschau»-Mitarbeiterin von Hoyer wissen (oder sich vielmehr bestätigen lassen): «Stecken wir in Deutschland noch zu sehr in den Schützengräben fest, wenn wir immer von Diktatur und Zwang sprechen?»

Bezogen auf die DDR, versteht sich.

Die Neuerfindung der DDR folgt einer hochaktuellen Diskurslogik. In einer Zeit, in der degrowth-Prediger wie Ulrike Herrmann von Podium zu Podium ziehen, in denen Linke den Neomarxisten Kohei Saito, der Planwirtschaft im Namen des Klimas fordert, wie einen Popstar anschwärmen, in der staatliche Wirtschaftslenkung im Wirtschaftsministerium als bevorzugtes Mittel gilt – in dieser Zeit muss die DDR natürlich dringend rehabilitiert werden. Dieser Prozess begann nicht erst mit Hoyer.

Die zumindest für Gesamtdeutschland noch relativ frische Doktrin vom 8. Mai 1945 als ausschliessliche Befreiung dient zwei noch etwas grösseren und grundsätzlichen Zwecken. Diejenigen, die diese Sicht durchzusetzen versuchen, wünschen sich erstens die Befreiung von der Geschichte schlechthin. Das Jahr 1945 dient ihnen als absolute Grenzlinie; alles, was davor liegt, gilt als dunkles Zeitalter, in dem sich bestenfalls hier und da hellere Bezugspunkte finden. Der grosse Schnitt soll die Begriffe und Denkschablonen der Gegenwart von dem Wurzelgeflecht der authentischen Geschichte abtrennen – und damit auch von jeder Ambivalenz. In München debattierten progressive Nachgeborene darüber, ob das Schild der Erich-Kästner-Strasse nicht zumindest mit einer kontextualisierenden Erklärtafel versehen werden sollte, um dem Autor, der nie irgendwelche Sympathien für die Nationalsozialisten zeigte, mit achtzigjähriger Verspätung vorzuwerfen, dass er nicht emigriert war. Richard Strauss gilt ihnen als noch problematischer, weil er bis 1935 der Reichsmusikkammer vorsass. Diesen Posten verlor er, weil er sich weigerte, den Autorennamen des emigrierten Stefan Zweig aus dem Libretto «Die schweigsame Frau» zu streichen. Nach dem Urteil hochkorrekter Kreise erhält neuerdings selbst Sophie Scholl den Stempel «ideologisch fragwürdig», weil sie Mitglied des BDM war.

Zum Zweiten entspricht das Verlangen nach absoluter Reinheit bei der Ex-post-Beurteilung der Geschichte exakt der aktuellen Gesellschaftsunterteilung in das Lager der unanfechtbar Moralischen und jenes der in irgendeiner Weise Makelbehafteten, wobei, wie bei jeder Orthodoxie üblich, die Priesterkaste entscheidet, was bei anderen als Makel zu gelten hat.

Erst dann, wenn historische Begriffe aus ihrer Sinnverankerung herausbrechen, lassen sich Formeln wie Nazi und Faschist völlig beliebig in der politischen Tagesauseinandersetzung verwenden, nicht nur gegen Personen, sondern gegen alles Mögliche, das im wohlgesinnten Milieu auf Ablehnung stösst. In dieser geschichtslosen Atmosphäre kann jemand beispielsweise behaupten, das Dirndl – in Wirklichkeit um 1870 erfunden und durch die jüdischen Textilhändler Moritz und Julius Wallach vor dem Ersten Weltkrieg populär gemacht – sei nazi.

Zur Sinnzerstörung gehört auch die säuberliche Trennung in ein abstraktes Nazideutschland und den von einer Niederlage irgendwie unbetroffenen Rest. Sie erlaubt heute den beliebigen Umgang mit Sprachformeln und Bildern. Das gleiche Milieu, das an Kästner und Strauss Haltungsnoten verteilt und das 1936 entstandene deutsche Apotheken-Logo am liebsten verbannen würde, weil es sich laut Jan Böhmermann um ein «Nazi-Zeichen» handelt, dieses Milieu brauchte eine beachtlich lange Zeit, um in dem stürmerähnlichen Grossgemälde auf der Documenta 15 und in arabisch-muslimischen Aufmärschen mit «Scheiss Juden»-Rufen überhaupt irgendetwas Problematisches zu entdecken. Die ZDF-Mitarbeiterin Sarah Bosetti reagierte verblüfft, als man ihr erklärte, ihr Begriff «Blinddarm der Gesellschaft» für Gegner der staatlichen Corona-Massnahmen enthalte durchaus Anklänge an die NS-Sprache. Denn die Grundfestlegung, von heute ab zurück über den 8. Mai 1945 bis in die weitere Vergangenheit lautet: Das Böse wohnt immer woanders.

Hinter der nationalsozialistischen Ära gehen die Umformungs- und Putzarbeiten an der Geschichte weiter. Der Bismarck-Saal im Auswärtigen Amt verlor kürzlich auf Wunsch der Aussenministerin seinen Namen. In Hamburg gab es den (einstweilen gescheiterten) Versuch, das Bismarck-Denkmal postkolonial umzugestalten. «Die Hamburger Politik hat versäumt, sich mit der Befreiung 1945 auch von ihrer Bismarck-Verehrung zu lösen», rügte die Taz. Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte dringend den Bibelspruch an der Kuppel des Berliner Schlosses durch eine «Intervention» zumindest vorübergehend auslöschen. Und ginge es nach ihr, müsste auch das Kuppelkreuz verschwinden.

Die Berliner Beuth-Hochschule warf 2021 ihren Namen ab. Christian Peter Wilhelm Beuth (1781–1853) machte sich zwar um die preussische Gewerbeförderung und die moderne Ingenieursausbildung verdient, beides empfahl ihn als Namenspaten einer Ausbildungsstätte für Techniker. Allerdings entdeckten gründliche Forscher, dass Beuth 1811 eine antisemitische Tischrede gehalten hatte (die vermutlich weniger judenfeindlich ausfiel als die von Mahmoud Abbas, der sich sowohl der Wertschätzung durch deutsche Politiker als auch der Versorgung durch bundesrepublikanisches Steuergeld erfreut).

Wo Alternativhistoriker unentwegt tilgen und wegdefinieren, da entsteht Raum für Neuschöpfungen. Die Reichsgründung 1871 liest sich bei Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität, in einem Text für den Focus so: «Schon 1848 war die Idee eines Gründungsdeutschlands multikulturell, multireligiös und multisprachlich.» […] «39 kulturell unterschiedliche, nicht zu einem Land gehörende Fürstentümer und Freie Städte, die sich zum Teil jahrhundertelang wegen religiöser Differenzen bekriegt hatten und die zudem unterschiedliche Sprachen sprachen, beschlossen, ein Deutschland unter einem Dach zu gründen. Die Sprachen dieses Landes waren Sorbisch, Russisch, Polnisch, Französisch, und Deutsch.» Schon die Reihenfolge wirkt bemerkenswert. Bei Foroutan handelt es sich offenbar um eine Art Hoyer für das Kaiserreich.

Möglicherweise glaubt in einigen Jahren tatsächlich eine Mehrheit der Schüler und Studenten, dass es 1848 so etwas wie ein «Gründungsdeutschland» gab (und vorher nichts), und dass sich 1871 mehrere «nicht zu einem Land», also auch nicht zum alten deutschen Reich gehörende russische, polnische, sorbische, französische und auch deutsche Territorien zu einem bunten Gebilde zusammenschlossen, das aber gleichzeitig Kolonial- und sonstige Verbrechen in Serie beging. Sie glauben vielleicht, dass zwischendurch ein ominöses Nazideutschland existierte, von dem die Deutschen 1945 befreit wurden, und vertreten ausserdem die feste Überzeugung, dass gleich danach die türkischen Helfer das Land wieder in Schwung brachten, während weiter östlich schon einmal ein Musterstaat für Gleichheit, Gerechtigkeit, Antirassismus, sparsamen Ressourcenverbrauch und gütige Volkslenkung heranwuchs, der 1990 aus nicht näher erörterten Gründen formal verschwand, um jetzt mit anderen Mitteln fortgesetzt wiederzukehren. Schon jetzt halten viele die AfD für den Wiedergänger der NSDAP, so wie sie Nazi als Universalbegriff für Personen deutlich rechts der Mitte benutzen.

Auf innere Konsistenz kommt es bei der erfundenen Geschichte nicht an. Sondern nur auf Nützlichkeit für den heutigen moralischen Geländegewinn.

Wer das Haus Nummer 60 der Andrássy út in Budapest nach einem Rundgang wieder verlässt, der merkt mit einigen hundert Kilometern Abstand, in welchem Mass ein solcher Erinnerungsort in Deutschland fehlt. Vor 1945 diente das Gebäude als Quartier der Pfeilkreuzler, danach bis 1956 als Sitz des kommunistischen Geheimdienstes. Die Texte der Ausstellung im «Haus des Terrors» weisen darauf hin, dass etliche Pfeilkreuzler als unentbehrliche Experten im Staatssicherheitsdienst des stalinistischen Ungarn anheuerten. Im Keller lassen sich die rekonstruierten Gefängniszellen besichtigen, die Überzeugungswerkzeuge,

die Hinrichtungszelle, in der die Geheimdienstmitarbeiter diejenigen exekutierten, die sie für Gegner hielten.

Eine mehr als zehn Meter hohe Tafel im «Haus des Terrors» gibt den Opfern ein Gesicht.

Videoaufnahmen, in denen ehemalige Häftlinge, überlebende deportierte Zwangsarbeiter, aber auch ein früherer Offizier des Staatssicherheitsdienstes sprechen, bilden den Kern der Ausstellung. Es kommen Beteiligte an der Geschichte zu Wort.

Die grosse Leistung der Geschichtserfinder in Deutschland besteht darin, diese Stimmen gleich zweimal weitgehend verdrängt zu haben: für den Mai 1945 und für die DDR.

Die 3 Top-Kommentare zu "Nachdem AfD-Chefin Alice Weidel erklärte, sie sehe den 8. Mai 1945 als Tag der Niederlage, beschlossen ihre Gegner, das Gegenteil müsse richtig sein. Ob DDR, Nationalsozialismus oder Kaiserreich: Erfundene Historie erlebt eine Hochkonjunktur – und dient dabei nicht dem Verständnis früherer Generationen, sondern dem moralischen Geländegewinn heute"
  • jacra

    Ich möchte die Befreiung von unserer Ampelregierung.

  • Guan Yu

    Es obliegt den Betroffenen zur damaligen Zeit über ihre Zeit zu urteilen, heutzutage obliegt es der jetzigen Generation lediglich zu respektieren, was damals tatsächlich gesagt & gedacht wurde. Eine Interpretation der damaligen Geschichte wird immer nur eine solche bleiben & nicht mehr, nur eine Minderheit der Beteiligten sofern sie noch lebt gibt ein begrenztes Zeugnis der damaligen Zeit. Heutige Ideologen maßen sich aus der zeitlichen Distanz Urteile an, die lediglich auf Vermutungen beruhen.

  • kinnaj

    Die Befreiung erfolgte auf die Niederlage der deutschen Wehrmacht. Also zuerst die militärische Niederlage und dann folgte die Befreiung.