Zehn Jahre, von 2012 bis 2022, stand der Schweizer Diplomat Peter Maurer, 65, an der Spitze des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Per Ende September trat er turnusgemäss zurück. Im letzten Interview seiner Amtszeit, erschienen in der Weltwoche, spricht Maurer über den Ukraine-Krieg und zeigt sich vorsichtig optimistisch.
Seit dem Ersten Weltkrieg sei der Anteil der zivilen Opfer in Kriegen stetig gestiegen, erst recht in den destrukturierten, terroristisch geprägten Konflikten der letzten Jahre, sagt Maurer. «Ich habe einmal mit Blick auf Syrien gesagt: ‹Wenn man in diesem Krieg überleben will, zieht man am besten eine Uniform an.›» Die Opfer seien fast alle Zivilisten gewesen.
Der Ukraine-Krieg markiere nun eine Trendwende, so Maurer. Die meisten Kriegsteilnehmer gehörten einer regulären Armee an. Sie seien in humanitärem Völkerrecht ausgebildet und würden die international anerkannten Normen der Kriegsführung kennen. «Wir stellen fest, dass es auf beiden Seiten echte Bemühungen gibt, diesen Konflikt nicht völlig eskalieren zu lassen. Es gibt Vorsichtsmassnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung.»
Natürlich komme es auch in der Ukraine zu Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht. Solche seien in jedem Krieg zu beobachten, sagt Maurer. Beispiele wollte er keine nennen. Das IKRK bespreche diese mit den Verantwortlichen im vertraulichen Rahmen. «Wir sind überzeugt, dass wir auf diesem Weg eher zur Verbesserung der Lage beitragen können als durch öffentliche Schuldzuweisungen.»
Wann der Gang an die Öffentlichkeit angebracht sei, müsse ein IKRK-Präsident von Fall zu Fall entscheiden. Das gehöre zu seinen schwierigsten Entscheidungen. Als Beispiel nennt Maurer die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Vernichtungslagern. «Wenn man privilegierte Informationen über so schreckliche Verbrechen hat, ist es besser, an die Öffentlichkeit zu treten.» Das sei heute Konsens im IKRK.
Die humanitäre Lage in der Ukraine beurteilt Maurer als weit weniger dramatisch. Die wiederkehrenden Aufforderungen an das IKRK, endlich öffentlich Stellung zu beziehen, weist er entschieden zurück. «Ich bin erstaunt, wie viele Leute glauben, es sei etwas erreicht, wenn man etwas sagt. Was mich interessiert, sind konkrete Verbesserungen der Lebensbedingungen von Menschen in Kriegsgebieten.»
Die martialische Rhetorik, die in den Debatten vorherrscht, lehnt er ab. «Je radikaler die Sprache des Krieges in der Öffentlichkeit gegenwärtig ist, desto schwieriger wird eine Kehrtwende hin zu Frieden und Versöhnung sein.» Das IKRK, viermal mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, versuche vielmehr, als neutraler Intermediär zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln.
Neutralität sei entscheidend. «Kriege werden nicht durch Zuschreibungen wie ‹gut› und ‹böse› beendet, sondern durch konkrete Versöhnungs- und Vermittlungsarbeit», so Maurer. Wenn man in das manichäische Schwarz-weiss-Denken einsteige, finde man nur schwer wieder hinaus. Die Erfahrung lehre ihn auch: «Je genauer man über eine Sache Bescheid weiss, desto schwieriger wird es, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.»
Maurer setzt im Ukraine-Krieg auf Diplomatie. «Es ist wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Wir wissen von Hunderten anderen Konflikten auf dieser Welt: Irgendwann kommt der Augenblick, in dem man wieder miteinander reden muss.» Es gehe nun darum, die Gesprächskanäle offenzuhalten. «Diplomatie muss am aktivsten sein, wenn die Lage am hoffnungslosesten scheint. Das IKRK leistet hier unverzichtbare Dienste.»
Große Anerkennung für die Publikation des Gesprächs mit Peter Maurer! Inmitten des Rasselns der Kriegstrommeln ist es so wichtig, auch die besonnenen Stimmen zu Gehör zu bringen. Dadurch hebt sich die Weltwoche wohltuend von der Masse der übrigen Presse ab.