Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

Vor über zwanzig Jahren diagnostizierte der Soziologe, Europakommissar und (später) nobilitierte Ralf Dahrendorf, ein seinerzeit bedeutender Vertreter der liberalen Gesellschafts- und Staatsidee, die «Krisen der Demokratie».

Die apodiktische Krisenhaftigkeit ist dabei mit gutem Grund in den Plural versetzt, da eine Krise – wie wir von Lukàcs und anderen wissen – natürlich in Wahrheit nie auf den isolierten Teilbereich beschränkt ist, auf den man sie sprachlich zu reduzieren versucht. Eine echte Krise betrifft – schon denklogisch – immer die Totalität eines Systems.

«Die gegenwärtige Krise der Demokratie ist eine Krise der Kontrolle und der Legitimität», heisst es bei Dahrendorf. Das postdemokratische Zeitalter habe begonnen – gekennzeichnet durch eine Krise der Nationalstaaten (als existenziellem Bedingungsraum der Demokratie), eine «grundsätzlich desinteressierte und apathische Bevölkerung», einen Bedeutungs- und Kontrollverlust der Parlamente, hervorgerufen durch die aufkommende Konkurrenz von Nichtregierungsorganisationen und Denkfabriken, multinationalen Unternehmen und Einzelpersonen – kurz: einer sich bildenden globalen Klasse. Damit sei ein Verlust von Transparenz im Entstehensprozess politischer Entscheidungen verbunden, der (notwendig) zu einem «schleichenden Autoritarismus» führe.

Wenig mehr als zwanzig Jahre später kommt eine durch die letzten EU-Wahlen frisch delegitimierte «Plattform» politischer Vereinsmeier zusammen, um zum jüngsten Elaborat überbezahlter Hohlbirnen aus der PR-Abteilung des EU-Parlaments die Inauguration einer multipel skandalexponierten Antidemokratin zu betreiben. «Demokratie in Aktion», brüllen 25 blau grundierte Plakattafeln diese neueste Selbstdarstellungsplattitüde (in halbherzig simulierten Landessprachen) vor die Tore des Strassburger Europaparlaments, während in den demokratisch unausleuchtbaren Hinterzimmern des Gebäudeinneren die EVP, der toxischste dieser politischen Vereine, an der Perpetuierung seiner Machtausübung schraubt.

Die EVP regiert in Brüssel seit nunmehr 25 Jahren. Das ist ein ganzes Vierteljahrhundert, länger als Stalin, Pol Pot und Mao Zedong – wahrscheinlich sogar länger als alle drei zusammen.

Entgegen dem unter medialer Mithilfe erzeugten Eindruck ist diese Europäische Volkspartei dabei gar keine Partei, sondern eine «internationale Vereinigung» belgischen Rechts. Ein Verein! Was den CSU-Machtbuchhalter und EVP-Vorsitzenden Manfred Weber von der strahlenden Führungsfigur, als die er sich gern stilisieren liesse, zu dem ungelenken Vereinsvorsteher degradiert, der er in Wahrheit ist.

Manfred Weber und sein fehlendes politisches Charisma haben uns die ersten fünf Jahre von der Leyen überhaupt erst eingebrockt, denn wäre er selbst nicht das, was er nun mal ist, sondern das, was er gerne wäre, hätte von der Leyen die Machtzentren der EU nur im Traum von innen gesehen. Die im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs hätten Weber, der immerhin offizieller Spitzenkandidat seines politisch gemeinten Vereins war, 2019 ohne viel Aufhebens zum Kommissionspräsidium durchgewinkt.

Nun, alles kam bekanntlich anders – vordergründig jedenfalls, denn die personelle Benutzeroberfläche der kontinuierlichen Machtausübung ein und desselben Vereins spielt kaum noch eine Rolle – Weber, von der Leyen, irgendein anderer Honk, von dem kein vernünftiger Mensch je auch nur gehört hat, ganz egal. Der Strahl des öffentlichen Scheinwerferlichts kann beliebig von einer Figur auf eine andere verschoben werden, ohne dass sich an der Machtstruktur das Geringste änderte.

Steigbügelhalter gibt es viele: von den notorisch zur Selbstschändung bereiten Sozialdemokraten über die traditionell mit Lobbyisten verwachsenen Liberalen bis hin zu machtdevoten Grünen und ausgewählten Vertretern des sogenannten politischen Rechtsextrems.

Das gesamte Projekt der EVP ist nichts als eine gutgeschmierte Maschinerie zur Organisation ihres eigenen Machterhalts, was naturgemäss die Kooperation mit allem und jedem einschliesst, das oder der diesem Verein die formal erforderliche Parlamentsmehrheit beschaffen kann.

Die EVP macht es mit jedem – nicht anders als die Typen, die sie sich an die Spitze setzt. Wertekanone von der Leyen Hand in Hand mit der italienischen Neofaschistin Giorgia Meloni in apricotfarbenem Partnerlook, was in gleich mehrfacher Hinsicht ein von Grund auf geschmackloser Anblick ist.

Hand in Hand mit dem griechischen US-Banker Mitsotakis, der Oppositionspolitiker, Journalisten, NGOs über Jahre mit israelischer Spähsoftware überwachen liess. Hand in Hand mit Alexander De Croo, der in Belgien nur für seinen Versuch bekannt geworden ist, den sogenannten Rechts- in einen lupenreinen Überwachungsstaat umzuwandeln – mit biometrischer Gesichtserkennung, automatisierter Vorratsdatenspeicherung und mancherlei weiterer Rechtswidrigkeit. Die Liste liesse sich fortsetzen.

Was aus der EU in den letzten 25 Jahren – mit Frau von der Leyen als folgerichtigem und finalem Kulminationspunkt – geworden ist, ist ihr Werk und das ihres Vereins: die Amerikanisierung, Natoisierung und Militarisierung.

Der seit Beginn der EU-Daten-Erhebung stabile Armutssockel von 25 Prozent, die Erosion der Mittelschichten und Verarmung der Armen, die ins Unermessliche wachsende Ungleichheit.

Daneben die Verachtung von Verträgen, Institutionen und Demokratie: Selbstermächtigungen, offene Rechtsbrüche und Nepotismen, Mauscheleien in Hinterzimmern und offene Bestechlichkeit. Dazu Intransparenz und die organisierte Umgehung der demokratischen Rechenschaftspflicht – begleitet von einer kolonialpädagogischen Selbstherrlichkeit, die unverhohlen an Bürger- und Demokratieverachtung grenzt. Depression, Deindustrialisierung, die Destruktion der ökonomischen und sozialen Substanz, die Deliberalisierung des gesellschaftlichen Diskurses, die autoritäre Wende mit Zensur, Informationskontrolle und Überwachung, die Kungelei mit US-Konzernen, Think-Tanks und Partikular-Interessenten.

Die Verachtung verpflichtender EU-Verfahren und bindender Regularien sowie der klare Verstoss gegen europäische und internationale Rechtsprinzipien.

Der Verfall der materiellen und intellektuellen Infrastrukturen, der Bildung, der Weisheit, des Gesundheitswesens, des Transports, der Dialektik, der Verwaltung, des digitalen Zukunftsdings.

Durch nichts gedeckte Hybris, politische Fehleinschätzungen, konstante Überregulierung. Die geostrategische Bedeutungslosigkeit. Aushöhlung und Verfall all ihrer affichierten Werte.

Ohne Frage verdankt jeder, der sich so etwas überhaupt noch fragt, der EVP die desaströsesten Fehlentwicklungen seines ganzen (politischen) Lebens. Und wie, das muss man wirklich einmal fragen, soll sich in dieser EU eigentlich etwas ändern, zum Besseren womöglich, wenn dort immerzu ein und derselbe Verein regiert?

Siebzig Jahre nach dem Beginn des europäischen Projekts sind alle Hoffnungen auf einen Aufbruch – in bessere, gerechtere, demokratischere, transparentere, bürgerzugewandte, gemeinwohlorientierte und friedliche Zeiten – rückstandslos verflogen.

Allen sich selbst als «(Pro-)Europäer» und «Demokraten» verbrämenden politischen Kräften im EU-Parlament genügt es noch nicht einmal mehr, an der Verstandes- und Menschen-Unfreundlichkeit des von ihnen mit geschaffenen Systems festzuhalten. Ungerührt treiben sie von einem Extremismus in den nächsten: Krieg, Verschuldung und Überwachung sollen die (von einer unter von der Leyen moralisch nur noch mühsam legitimierbaren EU-Kommission) konzertierte Begleitmusik zu einer degoutanten Schlachtplatte sein, die ihrerseits aus der geordneten Implosion und kontrollierten Sprengung aller integralen Grundlagen zivilisierter Gesellschaftsgefüge besteht.

Nach der linguistischen und der ikonischen Wende, die die Herrschaft des Wortes und dann des Bildes brachten, steht den Europäern nun der totalitäre Turn bevor, die autoritäre militaristische Wende.

Der ideologische Grundpfeiler dieses neuen Europa ist dies: die als brutalistisches Sturmgeschütz positionierte Summe all dieser Brechreiz erzeugenden Turns, denen von eifrigen Parlamentssoldaten (und medialen Trompetenbläsern) routiniert ihr semantisches Gegenteil zugeordnet wird – Frieden, Freiheit, Demokratie – Orwell oblige – zusammen mit dem existenziell grössten Nichts, das diese – im Sinne Dahrendorfs – postdemokratische, man müsste fast sagen: postpolitische globale Klasse jemals ausgeworfen hat, und das so absolut, allumfassend und unausräumbar ist, dass es einst zum Existenzialismus und heute zu einer Kommissionspräsidentin wie von der Leyen geführt hat. Das philosophische und ethische Nichts, das von ihr vertreten wird, hat seinen (un)demokratischen Umschlagspunkt nicht erst erreicht, sondern mit Siebenmeilenstiefeln überschritten.

Von der Leyen und die EVP. Die Phrase und das Nichts.

Die überhebliche Selbstgefälligkeit, mit der beide sich über alles hinwegsetzen, was wenigstens noch schemenhaft an Demokratie – oder an die Europäische Union (wie sie einmal konzipiert war) – erinnern könnte, kennt dabei keine Grenzen mehr.

Wegen der schmierigen Berateraffäre, die sie in Deutschland hinterlassen hatte, hätte Frau von der Leyen schon vor fünf Jahren nicht zur Präsidentin der EU-Kommission ernannt werden dürfen. Sie genügte schon damals nicht den strengen Anforderungen, die bezüglich regelkonformen Verhaltens und moralischer Integrität an potenzielle Mitglieder der Kommission gestellt werden. Schon damals gelang es Beobachtern nur unter Drogen, sie als «Beste» aus (damals noch) 500 Millionen EU-Bürgern zu imaginieren. Fünf Jahre, etliche Regelbrüche, Vertragswidrigkeiten und schmierige Affären später ist dies unvorstellbarer denn je.

Die von Dahrendorf aufgestellten Kriterien für eine legitime Machtausübung werden, was diese von EVP und von der Leyen deformierte EU angeht, auf ihre bisher härteste Probe gestellt: Die Möglichkeit einer gewaltlosen Herbeiführung von Veränderung, die umfassende Kontrolle der Machtausübenden und eine wahrhaftige Partizipation der Bürger an der Machtausübung sucht man in dieser EU vergebens. Das resignative Unbehagen der Bevölkerung gegenüber dieser sich als «politisch» maskierenden Machtstruktur ist das Ergebnis der weiteren Entkoppelung von politischem Überbau und bürgerschaftlicher Zivilgesellschaft. Wir sehen, mit Hegel gesprochen, den (unaufhaltsamen) Zerfall der demokratischen Sittlichkeit.

Von der Leyen ist Galionsfigur und personeller Ausdruck des (sittlichen) Verfalls der Demokratie, das ins Karikaturale verzerrte Abbild des Zustands der EU, die Personifikation der postdemokratischen Krise. Was Dahrendorf vor zwanzig Jahren beschrieb, kann man in der EU heute – und in Frau von der Leyen – ohne Mühe vor sich sehen. Kaum jemand könnte den systemumfassenden Krisenzustand des Politischen – die entdemokratisierte Demokratie – treffender verkörpern als von der Leyen, sie ist die perfekte postdemokratische Wahl. Und – nicht nur in diesem Sinne – für ihr Amt so gut geeignet wie Joe Biden für das seine.

Der Zerfall der äusseren Ordnung geht unweigerlich mit dem Zerfall der inneren einher. «Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heisst nicht mehr ‹führend›, sondern einzig ‹herrschend› ist», besteht die Krise «gerade in der Tatsache, dass die – Verzeihung: das Alte stirbt, und das Neue nicht zur Welt kommen kann», schreibt Gramsci über das sogenannte Interregnum, diesen Zustand der politischen Zwischenzeit, der die absonderlichsten Krankheitserscheinungen hervorbringt. Es ist die Zeit der Monster.

Keinen vernünftigen Menschen kann es mehr wundern, dass die visionäre Geisteskraft derer, die die EU in diesem Interregnum steuern, mit der jener übereinstimmt, für die sie gemacht ist. Dies ist – dies wird – die Zeit der Monster und Idioten sein.

Und jetzt ab ins Schwimmbad!