Karfreitag ist der unbequemste aller christlichen Feiertage und der mit Abstand ödeste: Es gibt keine Geschenke. Es gibt keinen Festbraten. Nicht einmal ein paar trockene Karfreitagsplätzchen. Von seinem Eventcharakter her ist der Karfreitag der totale Flop.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ist sogar das Tanzen an diesem Tag verboten. Und Stille, das ist genau das, was der moderne Mensch am wenigsten ertragen kann.

Doch nicht nur für die überdrehte Spassgesellschaft unserer Tage ist der Karfreitag eine Zumutung. Auch Theologen, Pastoren und Pfarrer haben ihre liebe Not mit ihm. Schliesslich widerspricht er dem flauschigen und süsslichen Bild von Religion und Christentum, das seit Jahrzehnten hingebungsvoll gepflegt wird. Denn mit Lichterketten, Händchenhalten und infantilem Ringelreihen hat die Bildersprache des Karfreitags wenig zu tun. In seinem Zentrum steht das Kreuz. Also ein Hinrichtungs- und Folterinstrument. Und dessen Botschaft hat mit moderner Wellnessreligiosität schrecklich wenig zu tun, im Gegenteil.

 

Schöpfer und Opfer zugleich

Die Sprachlosigkeit vieler Geistlicher ist auch deshalb so bedrückend, weil erst der Karfreitag das Christentum zum Christentum macht und dessen singuläre Stellung unter den Religionen begründet. Denn keine andere Religion liefert ein vergleichbar starkes Bild: den gekreuzigten Gottessohn, der zugleich – und insbesondere hier – ganz Mensch ist.

Götter, das waren und sind in den meisten bekannten Religionen entweder unberechenbare Wesen, launisch, selbstgefällig und allzu menschlich. Oder sie sind wahre Himmelsfürsten, Inkarnationen des Absoluten, herrliche Schöpfer, allmächtig und allwissend.

Anders das Christentum. Hier ist Gott nicht nur der allmächtige Schöpfer, sondern zugleich Opfer, gefoltert, misshandelt, ans Kreuz genagelt. Das Gegenteil eines Himmelsherrschers. Ein Bild voll Zweifel und Verzweiflung.

Doch auch das Christentum konnte den Verlockungen eines triumphalistischen Gottesbildes nicht lange widerstehen. Und so ist sein Aufstieg von einer kleinen jüdischen Sekte zur römischen Staatsreligion zugleich die Geschichte der Erhebung und Ästhetisierung des Gottessohnes zum antiken Himmels-Cäsaren.

Ermöglicht wurde diese monarchistische Umdeutung durch die Ostererzählung. In ihr wird aus dem Gefolterten und Gemarterten der Triumphator über den Tod, der schliesslich in den Himmel entrückt wird. Der Tod wird besiegt.

Ohne Ostererzählung hätte es die Jünger in alle Winde zerstreut. Das Christentum wäre nie entstanden.Eine folgenreiche Fortschreibung des historischen Geschehens. Denn ganz nebenbei bekommt die Botschaft des Jesus von Nazareth hier eine ganz neue, süssliche Bedeutung. Der Nazarener selbst sprach lediglich davon, dass am Jüngsten Tag die Toten auferweckt werden. Doch auferwecken kann man nur Menschen, die in einem ganz klassischen Sinne tot sind. Von einer Seele, die unmittelbar nach dem Tod weiterlebt, spricht Jesus nicht. Diese Vorstellung wird erst durch das Ostergeschehen motiviert. Hat Jesus nicht den Tod niedergerungen? Sind wir dann nicht alle unsterblich?

 

Überwindung des Todes

Der Erfolg dieser Geschichte ist religionsgeschichtlich einleuchtend und psychologisch gut nachzuvollziehen. Sie gab den Jüngern ihren Glauben zurück, eine Perspektive, die Gewissheit, sich nicht geirrt zu haben. Ihr Heiland war gar nicht tot. Die scheinbare Niederlage ein Sieg.

Ohne Ostererzählung hätte es die Jüngerschar in alle Winde zerstreut. Das Christentum wäre nie entstanden. Zugleich machte die sich nach und nach verfestigende Vorstellung, dass die Seelen der Gläubigen direkt nach ihrem Tod in den Himmel fahren, die neue Religion extrem attraktiv. Millionen Menschen im Elend bot sie eine Perspektive.

Langfristig jedoch, bis in unsere Tage, hatte diese Botschaft fatale Folgen. Das Geschehen am Karfreitag wurde zur Episode umgedeutet. Zu einem heilsgeschichtlich zwar notwendigen, letztlich aber sekundären Ereignis, dessen ganze theologische Funktion es ist, das Ostergeschehen umso heller strahlen zu lassen. Aus dem Gefolterten wurde der Himmelsherrscher. Nicht Kreuzigung und Martertod standen im Zentrum christlicher Spiritualität, sondern Auferstehung und Überwindung des Todes.

Man kann die Menschen verstehen. Insbesondere in den Jahrhunderten, in denen Leid, Gewalt und Elend zur Alltagswirklichkeit gehörten, war die Sehnsucht nach jenseitiger Erlösung grösser als das Bedürfnis nach existenzieller Versenkung. Und doch nahm diese religionshistorische Entwicklung dem Christentum die Spitze, noch ehe es Christentum wurde.

 

Irrsinn der Selbstoptimierung

Denn der Osterglaube versüsslichte die Kreuzesbotschaft. Das Christentum wurde – in den giftigen Worten Heinrich Heines – zum Eiapopeia vom Himmel umgedichtet. Aus der unnachgiebigen Kreuzesbotschaft, der radikalen Absage an menschliche Hybris und weltliche Erlösungsfantasien, wurde der kitschige Gedanke an eine heile Welt im Jenseits.

Doch der Osterglaube verdrehte den Ernst der Karfreitagsbotschaft nicht nur ins Infantile und Heidnische. Er stiftet auch die gedankliche Grundlage für die verhängnisvollen Erlösungsideologien, die in Gestalt säkularer Religionen das Himmelreich schon im Hier und Jetzt errichten wollten – koste es, was es wolle.

Mit Ostern kam die für antike Menschen befremdliche Botschaft in die Welt, dass die Weltgeschichte linear ist und auf eine Art Happy End zuläuft. Solang dieses Bild als Ausdruck einer göttlichen Dramaturgie verstanden wurde, konnte man ihm allenfalls vorwerfen, von den realen Problemen der Welt abzulenken. In ihrer säkularen Form, in der sie spätestens seit der Französischen Revolution auftritt, bekam die Osterbotschaft jedoch einen totalitären Unterton. Die Idee, schon hier und jetzt das Himmelreich auf Erden zu errichten, hat in der Moderne Millionen Menschen das Leben gekostet.

Diesem österlichen Utopismus tritt die existenzielle Botschaft des Karfreitags entgegen. Zugleich markiert das Karfreitagsgeschehen religionsgeschichtlich eine Umwertung aller bis dahin gültigen religiösen Vorstellungen. Gottes Souveränität zeigt sich nicht in seiner Allmacht, sondern in seiner Ohnmacht. Und: Der Mensch kann nichts zu seiner Erlösung beitragen, weder durch Opfer noch durch gute Taten – und durch Märtyrertum schon mal gar nicht. Der Mensch, das ist die harte Botschaft des Karfreitags, kann sich nicht selbst erlösen.

Das ist in Zeiten der zur Massenkultur gewordenen Selbsterlösung natürlich eine eher unpopuläre Nachricht. Denn es gehört zu den Zwangsvorstellungen der Moderne, der Mensch könne sich selbst das Heil bringen – sei es durch die Gesellschaft, durch die Politik, durch Konsum oder durch individuelle Emanzipation.

Doch die Versuche des Menschen, sich mittels gesellschaftlicher Ordnungen zu erlösen, führten direkt in den Gulag und nach Auschwitz. Und die individuelle Selbsterlösung in den alltäglichen Irrsinn der Selbstoptimierung mittels Personal Trainer, Coach und Psychotherapeut. Diesen Selbsterlösungsfantasien stellt sich die Karfreitagsbotschaft mit allen Konsequenzen entgegen.

In diesem Sinne ist der Karfreitag tatsächlich radikal unzeitgemäss – und deshalb der wichtigste aller christlichen Feiertage. Er erinnert uns daran, dass wir immer schuldig werden und diese Schuld aus eigenem Tun nicht mehr loswerden. Und er macht uns mittels eines drastischen Bildes klar, dass unser Seelenheil, prosaischer gesprochen: unser Glück, nicht von uns abhängt, unseren Lebens- und Karriereplanungen.

 

Antwort in der Stille

Karfreitag ist die zum Feiertag erhobene Absage an jede Ideologie. Das Kreuz, an dem niemand anderes stirbt als der Gottessohn selbst, ist die klare Zurückweisung aller falschen Versprechen und angeblichen Wahrheiten. Die Botschaft des Karfreitags ist das Gegenteil von Gewissheit. Am Ende steht nur das eine Wort: warum?

In diesem einen Wort steckt die eigentliche Sensation des Christentums. Hier ist eine Religion, die keine Antwort gibt. Gott selbst ist ratlos. Das Elend der Welt, das Leid, die Verzweiflung – all das ist unergründlich, von brutaler Faktizität, aber ohne jeden Sinn. Selbst der Gottessohn weiss keine Antwort und hat nur eine Frage: warum nur, warum?

Gottes Souveränität zeigt sich nicht in seiner Allmacht, sondern in seiner Ohnmacht.Das ist das Gegenteil von religiösem oder ideologischem Triumphalismus. Das ist unendlich weit weg von der Selbstherrlichkeit und Selbstgewissheit, mit der andere Religionen oder Ideologien gerne auftreten. Es ist diese karfreitägliche Verzweiflung, ja der Selbstzweifel des sterbenden Gottes, der das Christentum zum Christentum macht.

Als Symbol des Christentums hat sich das Kreuz durchgesetzt. Wie kein anderes Zeichen steht es für Ohnmacht, Ratlosigkeit und Verlassenheit. Gott selbst leidet und fragt, warum. Das ist die Karfreitagsbotschaft. Oder genauer: Sie liegt in der Antwort auf die verzweifelte Frage des Jesus von Nazareth – der Stille.

Die 3 Top-Kommentare zu "Als Gott ratlos war"
  • reto ursch

    Quo vadis Christentums? Weihnachten wird zum Winterfest, Ostern zum Frühlingsfest und das Tanzverbot wird abgeschafft. Die Kirchen verlieren ihre Mitglieder Schaaren Haft, und in den Moscheen herrscht Dichtestress. Die Winterfestbeleuchtung ist privatfinanziert während die Beleuchtung zum Ramadan in den deutschen Strassen, vom Staat mit Steuergeld finanziert wird.

  • reining

    Ich hoffe mal nicht, dass Herr Grau Pfarrer ist und seine depressive Theologie regelmässig verbreiten kann... Das Kreuz ist nicht die Hilflosigkeit Gottes, sondern im wahrsten Sinne der göttliche "game changer", wenn wir ihn denn annehmen wollen! Unsere Schuld vs. Gottes Vergebung. Unsere Leiden vs. Gottes Heilung. Unsere Hiffnungslosigkeit vs. Gottes Hoffnung. Von daher ist die Botschaft vom Kreuz für uns eine Botschaft der Liebe, des Glaubens und der Zuversicht.

  • roland.stucki

    Gelesen & gelitten: Schier unerträglich, was da aus den Höhen vermeintlicher philosophischer Überlegenheit daher schwadroniert wird. Indes, als Gegengift zu diesem verstörenden Elaborat, sei jeder und jedem geraten, die Kapitel 26-28 z.B. im Matthäus-Evangelium heute in Ruhe zu lesen. Mit Billy Graham (1918-2018) sei Alexander Grau zugerufen: „Ohne die Auferstehung ist das Kreuz bedeutungslos.“