Als der Aargauer Kardiologe Dr. med. Thomas Binder am 30. März 2020 seinen ersten Artikel zur «Covid-Plandemie» ins Web abfeuerte, war die erste Corona-Welle gerade am Anrollen. Gemäss Binder war das vermeintlich neuartige Virus nicht gefährlicher als eine jener saisonalen Erkältungen, die Jahr für Jahr weltweit Hunderttausende, vor allem Hochbetagte, ins Grab bringen. Erst die in einer globalen Hysterie erlassenen Massnahmen, so Binder, machten aus der Grippe eine humanitäre Katastrophe.

Binder benannte die Fehler: Zur Diagnose ungeeignete PCR-Tests verleiten zu falschen Schlüssen; kontraindizierte Therapien bringen mehr Schaden als Nutzen; gerade für die besonders gefährdete Gruppe der Hochbetagten sind soziale Isolation und fehlende Bewegung tödlich; mit der Fixierung auf das Coronavirus wurden andere Gebrechen sträflich vernachlässigt; statt die Prävention (etwa Vitamin D) zu forcieren und je nach Diagnose einfache, aber erprobte Arzneien (topisches Budesonid, Hydroxychloroquin, Ivermectin, Blutgerinnungshemmer) einzusetzen, unterzog man viele Patienten vorschnell einer lebensgefährlichen und oft unnötigen Zwangsbeatmung; Lockdowns, Masken oder Schulschliessungen sind bestenfalls nutzlos, die «Zero-Covid-Strategien» eine gefährliche Illusion.

Heute, drei Jahre später, würden wohl immer noch viele Binder da oder dort widersprechen. Doch der Wind hat gedreht. Selbst Covid-Hardliner räumen grobe Fehler ein, sofern sie sich nicht in Schweigen hüllen. Die saisonalen Corona-Wellen rollen wie eh und je wieder um den Erdball, ohne dass ein Hahn danach kräht. Es lässt sich darüber streiten, ob Schweden, viele afrikanische Länder oder gewisse US-Bundesstaaten, die auf einschneidende Massnahmen verzichteten, Covid-19 besser gemeistert haben. Aus den Statistiken lässt sich – je nachdem, wie man sie an- oder auslegt – das eine oder auch das Gegenteil davon herauslesen. Doch kaum jemandem würde es heute noch einfallen, einen Arzt wegen seiner Fachkritik am Corona-Hype in die Klapsmühle zu sperren.

Rollkommando gegen Dissidenten

Genau das passierte aber an Ostern 2020. Zu später Stunde stürmte damals ein bis an die Zähne bewaffnetes Sonderkommando der Kantonspolizei Aargau die Praxis des Kardiologen in Wettingen. Der nahe Bahnhof war stundenlang gesperrt. Obwohl Binder die Tür öffnete und keinerlei Widerstand leistete, wurde der Arzt vom Kommando wie ein Schwerverbrecher zu Boden geworfen und in Handschellen abgeführt (Weltwoche Nr. 16/20, «Showdown in der Arztpraxis»). Den Anlass gab eine Formulierung in einem seiner Blogs, die man mit viel Fantasie und bösem Willen als Drohung interpretieren konnte. Tatsächlich wurde Binder dafür nie angeklagt, es gab nicht einmal einen Haftantrag. Doch die kecke Wortwahl reichte für eine Woche psychiatrische Zwangsunterbringung.

Rückblickend kann man sich nur an den Kopf greifen: Wie war so etwas möglich?

Rückblickend kann man sich nur an den Kopf greifen: Wie war so etwas möglich? Nicht in Russland, sondern in der Schweiz. Gewiss, viele von Binders Wortmeldungen auf Twitter, Facebook oder Vimentis waren ätzend bis polemisch. Seine Theorien über die Drahtzieher hinter dem Corona-Hype muteten bisweilen abenteuerlich an. Doch es gibt in der freien Welt kein Gesetz, das den Menschen verbietet, laut über das Unvorstellbare nachzudenken. Abgesehen davon war Binder fachlich bestens qualifiziert – und zwar deutlich besser als all die Modellrechner, Theoretiker, Funktionäre und Politiker, welche beim Corona-Regime den Takt vorgaben.

Nach seinem Medizinstudium in Zürich hatte Thomas Binder im Bereich Virologie und Immunologie doktoriert. Da er mit dem Gedanken spielte, in die Forschung zu gehen, hatte er viel Zeit und Aufwand in Laboruntersuchungen investiert. Danach folgten 35 Jahre Erfahrung in Spitälern, auf Intensivstationen und schliesslich in der eigenen Praxis für Kardiologie. Neben den spezifischen Fachkenntnissen verfügte er damit über einen Wissenshorizont, der eine ganzheitliche Betrachtung erlaubte. Sein Schreibstil ist Geschmackssache; doch die medizinischen Fakten, Studien und Erkenntnisse, auf die er sich berief, standen auf solidem Boden.

Wenn es ein Schlüsselerlebnis für seine Haltung gegeben habe, meint Binder im Rückblick, dann sei es am ehesten die Schweinegrippe anno 2009 gewesen. Das von Medien und Politik zum apokalyptischen Massenkiller hochstilisierte Virus erwies sich als relativ harmlos. Abermillionen von nutzlosen Impfdosen mussten entsorgt werden. Als im Januar 2020 Videoclips aus China im Netz zirkulierten, welche Menschen zeigten, die auf offener Strasse wie vom Schlag getroffen tot umfielen, war Thomas Binder sofort klar, dass die nächste Propaganda-Seuche im Anzug war. Nur hatten die Panikmacher dazugelernt. Eine Phalanx von Weltrettern unterdrückte ohne Pardon jeden Zweifel am Narrativ des einzigartigen und apokalyptischen Killervirus.

Wissenschaft ist undemokratisch

Anfänglich habe er den Podcast des deutschen «Corona-Papstes» Christian Drosten auf NDR mit wohlwollendem Interesse verfolgt, erinnert sich Binder. Peu à peu seien ihm jedoch Widersprüche und Lücken in Drostens Theorien und Modellen aufgefallen, die jeden Wissenschaftler misstrauisch machen mussten. Noch mehr alarmierte Binder jedoch, dass die Fachwelt Drostens Ungereimtheiten völlig unwidersprochen durchgehen liess. Eiserne Regeln der Wissenschaft hatten über Nacht ihre Gültigkeit verloren, diskussionslos, als hätten sie nie existiert.

Wer auf der Autobahn ganzen Horden von Geisterfahrern begegnet, wird sich schnell die bange Frage stellen, ob nicht er selbst der Geisterfahrer ist. Thomas Binder ging es nicht anders. War die ganze Welt wahnsinnig geworden – oder war er reif für die Klapsmühle? Hatte er etwas Wesentliches übersehen? Das sind existenzielle Fragen, die jedem normalen Menschen in einer solchen Situation den Schlaf rauben. Die meisten würden eine Kehrtwende machen und sich diskret in den Strom einordnen. Nicht aus Überzeugung, sondern zum eigenen Schutz.

Eine Phalanx von Weltrettern unterdrückte Zweifel am Narrativ des apokalyptischen Killervirus.Gerade daraus lässt sich andererseits ableiten, dass die Horden möglicherweise in die falsche Richtung rasen. Bei der Mode und an der Wahlurne hat die Mehrheit immer recht. Doch die Wissenschaft ist zutiefst undemokratisch. Die Summe der Meinungen hat mit Wahrheit nichts gemein. Es zählt allein die Evidenz. Das bessere Argument ist der Feind des guten, das jedoch nur so lange gilt, bis es von einem besseren widerlegt wird. Wissenschaft ist dialektisch. Jede These verlangt nach der Antithese. Und wo die Widerrede zur Ketzerei wird – was bei Corona schnell der Fall war –, haben wir es nicht mehr mit Wissenschaft zu tun. Sondern mit Glauben und Aberglauben.

Schwab, Soros, Gates

Völlig allein war Binder nicht. Weltweit gab es renommierte Mediziner – etwa John Ioannidis in den USA, Sunetra Gupta in Grossbritannien oder Sucharit Bhakdi in Deutschland –, die Binders Fundamentalkritik teilten. Tausende von Medizinern, unter ihnen wissenschaftliche Koryphäen, unterzeichneten die «Great Barrington Declaration», welche vor den verheerenden Kollateralschäden einer unsinnigen «Lockdown-Politik» warnte. In der Schweiz leistete die Ärztegruppe Aletheia, in deren Vorstand Binder zeitweise Einsitz nahm, herzhaften Widerstand. Doch die Widerrede wurde vom medialen und politischen Mainstream nach Möglichkeit ignoriert oder nach allen Regeln der Kunst schlechtgeredet und der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die meisten Menschen gehen in Deckung, wenn sie unter Beschuss geraten. Bei Thomas Binder zeitigte das mediale Sperrfeuer eine konträre Wirkung: Es ermunterte ihn erst recht zum Widerspruch. Seine Tweets und Blogs wurden schärfer, polemischer, kompromissloser. Er scheute auch nicht davor zurück, dem kollektiven Wahn einen Sinn zu geben. Seiner Meinung nach war der Corona-Hype inszeniert, unbekannte und bekannte Figuren – von Klaus Schwab über Bill Gates bis zu George Soros – zogen im Hintergrund die Fäden und heimsten ihre Profite ein.

Für seine kardiologische Praxis hatte Thomas Binders Feldzug gegen die Corona-Politik in den sozialen Medien kaum negative Konsequenzen. Abgesehen von der einwöchigen Psychiatrie-Pause wurde der Betrieb nie unterbrochen. Vereinzelt hatten sich zwar Patienten zurückgezogen. Doch die wenigen Abgänge wurden mehr als kompensiert durch eine neue Klientel, die ihm gerade wegen seiner Haltung vertraute. Einige Freunde gingen auf Distanz, neue kamen hinzu. Den Ausschluss aus dem Rotary-Club Wettingen nach seiner Visite in der psychiatrischen Gummizelle von Königsfelden trug er mit Fassung (er dürfte den Rotariern mittlerweile peinlicher sein als ihm selbst).

Während 22 Monaten war Binders Twitter-Account mit etwa 39 000 Followern gesperrt. Seit Elon Musk im Januar 2023 die Zensur beendet hat, ist die Zahl auf über 56 000 geklettert. Zwischenzeitlich hatte Binder einen Blog eröffnet, mit dem er ein Millionenpublikum erreichte. Ein medial orchestrierter Angriff auf seine Praxisbewilligung scheiterte im Versuchsstadium. Behördlicherseits war man wohl froh, den irren Polizeieinsatz auf dem Höhepunkt der Corona-Hysterie diskret ad acta zu legen.

Keiner konnte sich je zu einer Entschuldigung durchringen. Thomas Binder hatte eine solche allerdings auch nie verlangt. Er habe sich nie als Held gefühlt, sagt er, er sei lediglich seinem medizinischen Gewissen gefolgt. Oft habe er sich insgeheim gewünscht, dass er sich irre. Doch so, wie die Dinge im Rückblick erscheinen, war nicht er der Geisterfahrer.