Geisterfahrer folgen am besten einem Dreistufenplan: Vollbremsung, Ausfahrt, Umkehr. Was für Autobahnen gut ist, kann für die Atompolitik nicht falsch sein.

Die deutsche Energiewende wurde am 16. Februar 2002 geboren. Damals organisierte Umweltminister Jürgen Trittin die Fachtagung «Energiewende – Atomausstieg und Klimaschutz». Schon der Titel verdeutlicht, dass das Projekt seit Anbeginn einen kardinalen Denkfehler enthielt – den Verzicht auf CO2-freie Kernenergie. Zwanzig Jahre lang regte sich kein Widerspruch aus der Wissenschaft.

Im Gegenteil: Eine vom Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Matthias Kleiner, geleitete Ethikkommission empfahl der Bundesregierung am 30. Mai 2011 den Atomausstieg. Zehn Jahre später zeigte meine Analyse, dass sich unter den acht Professoren der Kommission kein Energietechniker, kein Kernenergieexperte und kein Elektrotechniker befand. Sie war damit ungefähr so glaubwürdig wie eine Corona-Kommission ohne Virologen.

Ein Schritt zu einer rationalen Energiepolitik ist die Reaktivierung stillgelegter Kernkraftwerke.

«Potenzial zum Bürgerkrieg»

Die Analyse zeigte das Fehlen einer ergebnisoffenen Aufgabenstellung und den Verzicht auf eine fachgerechte Risikoanalyse als Hauptmängel der Arbeit des Kollegiums auf. Sie mündete in der Erkenntnis, dass die Professoren dem Leitbild unabhängiger Wissenschaft nicht gerecht geworden waren und überdies Regeln guter wissenschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Politikberatung vernachlässigt hatten. Der deutsche Atomausstieg fusst somit auf Politikberatungspfusch.

Im Jahr 2022 tritt das Scheitern der deutschen Alleingangsparole «Atomausstieg und Klimaschutz» offen zutage: Deutschland emittiert pro Kopf doppelt so viel CO2 wie Frankreich. Steigende Energiepreise bergen sozialen Sprengstoff. Die einseitige Ausrichtung auf Sonne, Wind und Erdgas entpuppt sich als Schleichweg ins Chaos. Der Hamburger Universitätspräsident Dieter Lenzen sagte 2021 sogar: «Die Energiewende hat das Potenzial zum Bürgerkrieg.»

Wie kann der deutsche Sonderweg beendet werden? Nach dem Dreistufenplan.

Vollbremsung: Zwanzig deutsche Professoren haben am 26. Juli beim Bundestag die sogenannte Stuttgarter Erklärung eingereicht – eine Petition gegen das Abschalten der letzten drei Kernreaktoren. In Einklang mit der Einordnung der Kernkraft als klimaneutrale Energie durch den Weltklimarat IPCC und die EU-Taxonomie fordern die Wissenschaftler – unter ihnen zehn Energieforscher einschliesslich meiner Person und dreier Kerntechnikexperten – eine Verlängerung der Laufzeit über den 31. Dezember 2022 hinaus.

Ausfahrt: Ein zweiter Schritt auf dem Weg zu rationaler Energiepolitik ist die Reaktivierung stillgelegter Kernkraftwerke. Die Mittel dazu liessen sich durch Streichung milliardenschwerer Subventionen anderer Bereiche unschwer beschaffen. Die Massnahme würde den Anteil grundlastfähiger CO2-neutraler Energie erhöhen und die Versorgungssicherheit von Industrie und Bevölkerung steigern.

Umkehr: Ein Wiedereinstieg in die Klimaschutztechnologie Kernenergie, ergänzend zu Sonne und Wind, erfordert die Erörterung unbequemer Themen. Die Befürworter der Kernenergie müssen sich konsequent der Frage stellen, wer in einer marktwirtschaftlichen Energiepolitik die Haftung für Nuklearunfälle übernimmt. Umgekehrt müssen sich die Kritiker der Kernenergie die Frage gefallen lassen, wer die Gesellschaft eigentlich gegen das Scheitern der Energiewende versichert. Wer haftet, falls sich trotz billionenschwerer Investitionen in erneuerbare Energiesysteme im Jahr 2050 keine Dämpfung des Klimawandels einstellt?

Wenn wir diese Fragen beantworten, können wir die Spaltung der Gesellschaft überwinden. Andernfalls bleibt das Menetekel von Dieter Lenzen über unseren Köpfen hängen.