Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die grosse Flucht der Literatur. C. H. Beck. 351 S., Fr. 39.90

Ein Sommertag, die Hügel sind leuchtend grün, so, als wäre nichts gewesen. «Wir brauchen Mut heute», sagt Walter Hasenclever, zu Lion Feuchtwanger gewandt. «Wie viel Prozent Hoffnung geben Sie uns?» Der Angesprochene antwortet sofort: «Fünf Prozent.» Es ist Juni 1940. Die beiden jüdischen Schriftsteller bangen um ihr Überleben; Hasenclever aber hält die Ungewissheit schon bald nicht mehr aus – er nimmt eine Überdosis Veronal und stirbt daran. Die Aussicht, dem Naziregime, vor dem er nach Frankreich geflohen war, in die Hände zu fallen, veranlasst ihn zu diesem Schritt. Feuchtwanger überlebt, ihm gelingt später, als Frau verkleidet, die Flucht.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht war Frankreich in jenem Sommer kein sicheres Exilland mehr. Massen flüchteten zunächst in den Süden, in die unbesetzte zone libre, und mit ihnen zahlreiche deutsche und österreichische Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler. Uwe Wittstock spricht in «Marseille 1940» von der «grossen Flucht der Literatur» und schildert in faszinierend detailgetreuen Miniaturen unter anderem die Schicksale von Franz Werfel, Heinrich und Golo Mann, Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger und Walter Benjamin. Was der Literaturkritiker da ausbreitet, ist, das merkt man in jeder Zeile, umfassend recherchiert und sprachlich und dramaturgisch derart gekonnt aufbereitet, dass man sich fast schon in einem Thriller wähnt. Man hat das Gefühl, man wäre tatsächlich mittendrin, man könne den Atem der Angst riechen und das Oszillieren zwischen Verzweiflung und Hoffnung.

Es sind gerade auch die düsteren Zeiten, die das Beste im Menschen hervorbringen können.

Die Flüchtenden aus Deutschland waren allerdings in der zone libre nicht genug geschützt, da Regierungschef Philippe Pétain im Waffenstillstandsabkommen zugesichert hatte, sie auf Verlangen auszuliefern. Daher ging es bald Richtung Marseille, um von dort aus so schnell wie möglich nach Übersee aufzubrechen. Mit den über 200.000 Flüchtenden zählte die Hafenstadt damals fast eine Million Menschen.

Die ebenfalls dort ankommende deutsche Schriftstellerin Anna Seghers, die sich nach Mexiko-Stadt retten konnte, schildert in ihrem Erinnerungsroman «Transit» die Hektik und das Chaos, die damals dort herrschten. An der Tagesordnung waren wilde Spekulationen und Gerüchte, man konkurrierte um Botschaftstermine, um Visa zu organisieren, und tauschte sich darüber aus, wie Geld zu verdienen wäre. Noch nicht weg zu sein und zugleich noch nicht angekommen, ist die Marter, die alle Emigranten verbindet, dabei immer Gefangennahme und Tod im Nacken. Seghers fasste ihre Sehnsucht in den Ausruf: «Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern!»

 

Risiko und Unerschrockenheit

Wittstock führt auch da so nahe wie möglich heran, richtet die literarische Kamera dicht auf die rastlosen Protagonisten, auf ihre Mühen und ihre Erschöpfung, und längst sind sie einem so nahe, dass es nicht auszuhalten ist, sie in dieser Not zu wissen. In Geschichten wie diesen braucht es im besten Fall einen Retter, und diesen gab es tatsächlich, in der Gestalt des Varian Fry. Dass der Amerikaner durch die Erzählung Wittstocks an Präsenz gewinnt, ist ein besonderer Gewinn. Seine Unerschrockenheit gibt ein ermutigendes Beispiel. Ihn hätte nicht kümmern müssen, was in Europa vor sich ging, doch die Menschlichkeit gebot ihm, nicht wegzuschauen, selbst wenn er Leib und Leben riskieren würde. Das zeigt, dass es gerade auch die düsteren Zeiten sind, die nicht nur das Grauenvolle, sondern nachgerade das Beste im Menschen hervorbringen können. Gemäss dem Satz Friedrich Hölderlins: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.»

1935 ging Fry für die Zeitschrift The Living Age nach Berlin, wo er Zeuge der Judenverfolgung durch Hitlers Truppen wurde. Ihn liess das Schicksal der Gejagten nicht los. Zunächst in Amerika, später vor Ort setzte er alle Hebel in Bewegung, um möglichst viele Emigranten zu retten. Er organisierte Verstecke, liess Urkunden fälschen und zahlte Bestechungsgelder. Mit Mitstreitern baute Fry das illegale Fluchthilfenetz «Emergency Rescue Committee» auf und ermöglichte dadurch bis zum Herbst 1942 über 2000 Menschen die Flucht nach Amerika, darunter neben Feuchtwanger und Werfel auch den Künstlern Max Ernst und Eugene Spiro.

Die Monate, die Wittstock feinfühlig dokumentiert, ohne je gefühlsüberladen zu werden, sind auch dem gewidmet, was Menschen immer weitermachen lässt, selbst wenn es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, und was sich trefflich in ein Wort fassen lässt: trotzdem. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass einige der Fliehenden jeden Halt verloren und ihrem Leben selbst ein Ende setzten. So auch Walter Benjamin, der seinen letzten Essay an Hannah Arendt übergab, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbrach.