Jacques Baud veröffentlichte 2021 das Buch «L’affaire Navalny», in dem er sich kritisch mit dem Auf- und Abstieg des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny auseinandersetzte. Im Interview mit der Weltwoche spricht der Ex-Nachrichtenoffizier und Uno-Friedensmissionar über Nawalnys enge Beziehungen zu den US-Eliten, seine Bedeutung in Russland und die Folgen, welche sein Tod haben könnte.

Weltwoche: Herr Baud, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Alexei Nawalny: Hat die russische Regierung ihn umgebracht?

Jacques Baud: Ich weiss es nicht. Es ist zu früh, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Gegenwärtig können wir nur spekulieren. Es stellen sich viele Fragen. Auch ist unklar, was gerade mit seiner Leiche passiert.

Weltwoche: Julia Nawalnaja sagt, dass ihr Mann im Straflager in Charp gefoltert worden sei. Das ist doch ein Skandal.

Baud: Ich will hier nicht missverstanden werden: Die russischen Behörden stehen auch in der Verantwortung. Sie wussten, dass Nawalny gesundheitlich angeschlagen war. Das wusste man spätestens nach den Untersuchungen in der Berliner Charité 2020. Haben die russischen Behörden im Straflager vor diesem Hintergrund angemessene Massnahmen getroffen? Solche Fragen stehen natürlich im Raum.

Weltwoche: Die Verantwortlichen nahmen doch keine Rücksicht auf seine Gesundheit. Man wollte Nawalny schon 2020 aus dem Weg räumen, als man ihn mit Nowitschok vergiftete.

Baud: Hier muss ich dagegenhalten: Es ist mit grösster Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dass Nowitschok im Spiel war. Das stellte sogar Meduza, ein Oppositionsmedium, zum damaligen Zeitpunkt fest. Der Grund dafür ist einfach: Bereits geringste Mengen des chemischen Kampfstoffes führen zum raschen Tod. Die deutsche Regierung mauerte damals. Detaillierte Fragen beantwortete sie gegenüber Parlamentariern nicht. Sie begründete das damit, dass ansonsten die nationale Sicherheit gefährdet sei.

Weltwoche: Die Bundesregierung sagte, dass der zweifelsfreie Nachweis eines chemischen Nervenkampfstoffes der Nowitschok-Gruppe erbracht worden sei.

Baud: Hierfür gibt es keine Beweise. Das ist eine Behauptung. Die Bundesregierung sagte nicht einmal, um welche konkrete Substanz es sich eigentlich gehandelt haben soll. Auch war nicht klar, ob Nawalny überhaupt vergiftet worden war. Ärzte in der Berliner Charité hatten im Sommer 2020 Blut- und Urinwerte untersucht. Ich habe mit Ärzten gesprochen, die diese Ergebnisse studiert haben. Sie kamen zum Schluss, dass sein schlechter Gesundheitszustand auf eine Überdosis mehrerer Antidepressiva, Alkohol und sein geschwächtes Immunsystem zurückzuführen gewesen sei. Auch schwedische Mediziner, die sich der Sache angenommen hatten, fanden keine Spuren von Nowitschok.

Weltwoche: Warum stand Nawalny im Clinch mit den russischen Behörden? Es heisst, dass er wegen Extremismus im Gefängnis gesessen habe.

Baud: Die russische Justiz warf Nawalny vor, seinem Bruder Oleg geholfen zu haben, sich illegal zu bereichern. Oleg Nawalny ist 2014 wegen Betrugs zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er war ein leitender Angestellter im Sortierzentrum der russischen Post in Podolsk, der Deals mit dem Kosmetikunternehmen Yves Rocher eingefädelt hatte. Er brachte das französische Unternehmen dazu, für Transportleistungen die Dienste des privaten Logistikunternehmens Glavpodpiska (GPA) in Anspruch zu nehmen. Diese Firma gehörte der Familie Nawalny. Alexei erhielt als Komplize eine Bewährungsstrafe von dreieinhalb Jahren.

Weltwoche: Warum kam Nawalny später auch noch hinter Gitter?

Baud: Er hatte gegen Bewährungsauflagen verstossen. Seine Bewährungszeit verlängerte sich mehrfach, weil er gegen sein Urteil wiederholt in die Berufung gegangen war. Die Bewährungszeit endete Ende 2020. Bis zu diesem Zeitpunkt war er verpflichtet, sich zweimal pro Monat bei der russischen Gefängnisbehörde zu melden. Er durfte Russland auch nicht verlassen. Weil er dieser Verpflichtung nicht nachkam, wurde er verhaftet.

«Im Westen hat man Nawalny stets als Hauptgegner Putins dargestellt. Das entspricht nicht der Realität.»

Weltwoche: Wie hätte er dem auch nachkommen sollen? Nawalny war zuvor nur knapp dem Tod entkommen. Im August 2020 befand er sich gerade in Deutschland.

Baud: Nawalny hatte 2020 sechsmal gegen Bewährungsregeln verstossen. Dazu muss man wissen: Während seines Aufenthalts in der Charité haben ihn die russischen Behörden von seinen Verpflichtungen entbunden. Sie drückten lange ein Auge zu, obwohl der Oppositionelle zuvor Auflagen missachtet hatte.

Weltwoche: Was geschah nach dem Charité-Aufenthalt?

Baud: Mitte September 2020 hatte er das Krankenhaus in Berlin wieder verlassen. Im Oktober ging es ihm gesundheitlich bereits wieder besser. Spätestens dann hätte er problemlos wieder nach Russland gehen können, um sich mit den Behörden zu arrangieren. Er tat das Gegenteil. Er reiste quer durch Europa. Gab Pressekonferenzen und Interviews und schoss stets scharf gegen Putin.

Weltwoche: Das ist doch sein gutes Recht.

Baud: Klar, aber dass das der russischen Regierung nicht gefallen würde, war auch absehbar. Dazu kommt: Nach seinem Charité-Aufenthalt hielt er sich in Kirchzarten im Schwarzwald auf, um den Propagandafilm «Ein Palast für Putin» zu drehen, der bereits im Januar 2021 im Westen ausgestrahlt wurde. Unabhängig davon, wie man zu Putin steht, muss man sagen: Viele Behauptungen, die Nawalny in diesem Film über den russischen Präsidenten aufstellte, waren schlicht falsch. Mit dem Film machte er sich auch unter vielen russischen Bürgern keine Freunde.

Weltwoche: War dieser Film eine Art Zäsur in Nawalnys Biografie?

Baud: Das kann man so sagen. Zuvor hatten die Behörden noch eine gewisse Gnade ihm gegenüber an den Tag gelegt. Doch damit war nun fertig. Nawalny hat hier in meinen Augen einen grossen Fehler begangen. Er meinte, dass er aufgrund seiner Bekanntheit wenig zu befürchten habe. Deshalb dachte er wohl zunächst, dass die russischen Behörden ihn nicht einsperren würden. Er täuschte sich. Nach seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 nahmen ihn die russischen Behörden fest. Seither lief er nicht mehr auf freiem Fuss herum.

Weltwoche: Alexei Nawalny wird jetzt als Freiheitsheld gefeiert: in Ihren Augen also zu Unrecht?

Baud: Im Westen hat man ihn stets als den Hauptgegner Putins dargestellt: Dieses Bild entspricht nicht der Realität. Nawalny war bloss sein bekanntester Gegner im Westen.

Weltwoche: Wie beurteilen Sie ihn politisch?

Baud: Nawalny war einst Mitglied der sozialliberalen Partei Jabloko, die mit der FDP verglichen werden kann und in den 1990er Jahren nicht unbedeutend war. Nawalny wurde für die Partei jedoch zur Hypothek und wurde rausgeworfen.

Weltwoche: Wie kam es dazu?

«US-Eliten standen hinter ihm, weil sie mit ihm einen Oppositionsführer aufbauen wollten.»

Baud: Er vertrat Positionen, die zu extremistisch waren. Der Oppositionelle war ein Rechtsextremist und Rassist. Er hetzte gegen muslimische Einwanderer und meinte, sie müssten wie Kakerlaken ausgerottet werden. Er nahm an Demonstrationen von Rechtsradikalen teil. Später versuchte er, seine eigene ultranationalistische Partei zu bilden. Scheiterte jedoch. Nawalny war alles andere als ein liberaler Politiker. Interessant ist auch: Hinsichtlich der Ukraine hat Nawalny stets Positionen vertreten, die viele seiner westlichen Fans verurteilen. Er sagte, dass man die Krim niemals der Ukraine zurückgeben dürfe.

Weltwoche: Weshalb romantisiert man Nawalny im Westen bis heute? Sah man ihn in Washington ähnlich wie Juan Guaidó? Den venezolanischen Politiker wollten die US-Eliten in Caracas an die Macht bringen.

Baud: Es gab in Washington Leute, die Nawalny gerne im Kreml gesehen hätten. Er konnte auf mächtige Unterstützer aus Grossbritannien und den USA zählen. Die National Endowment for Democracy, eine Denkfabrik, die eng mit der US-Regierung verbandelt ist, unterstützte ihn lange, wie ich in meinem Buch dargelegt habe.

Weltwoche: War Nawalny ein US-Einflussagent?

Baud: Die US-Eliten standen hinter Nawalny, weil sie mit ihm einen Oppositionsführer aufbauen und damit den Druck auf Putin erhöhen wollten. Auch das habe ich meinem Buch aufgezeigt. 2010 absolvierte er das «Yale World Fellows Program». Ebenfalls durchlaufen haben dieses die belarussische Oppositionspolitikerin Swjatlana Zichanouskaja oder der venezolanische Politiker Juan Guaidó. Mit dem Programm bilden die US-Eliten künftige Leader aus, die später Politik im Interesse Washingtons betreiben sollen. Intellektuell ist das Ausbildungsprogramm nicht sehr anspruchsvoll. Zurück in Russland, gründete Nawalny dann die Stiftung für Korruptionsbekämpfung.

Weltwoche: Wie populär ist oder war Nawalny in Russland?

Baud: In Russland gibt es eine Opposition. Doch diese interessierte sich nicht für Nawalny, der in erster Linie viel Lärm machte. In Umfragen zur Popularität russischer Politiker schnitt Nawalny immer schlecht ab. Er erreichte nie mehr als 3 Prozent. Zum Vergleich: Putin erzielte ab Februar 2022 Werte von bis zu 80 Prozent. Nawalny war vor allem auf den sozialen Netzwerken bekannt. Sein Publikum bestand aus Menschen, die zwischen 15 und 25 Jahre alt waren. ›››

Weltwoche: Bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 erreichte er immerhin 27 Prozent der Wählerstimmen.

Baud: Das war ein trügerischer Erfolg. Dieser drückte keine Präferenz für Nawalny aus, sondern lediglich eine Ablehnung gegenüber dem damals amtierenden Bürgermeister von Moskau.

Weltwoche: Das Putin-Regime hat ihm doch auch stets Steine in den Weg gelegt.

Baud: Dass Nawalny nie Fuss fassen konnte in der russischen Politik, lag an der mangelnden Unterstützung. Wiederholt scheiterte er bereits daran, die benötigten Unterschriften zu sammeln, die für die Zulassung zu einer Kandidatur notwendig sind. Er war bekannt in Moskau und möglicherweise noch in Sankt Petersburg. Ansonsten war er in Russland weitgehend bedeutungslos.

Weltwoche: Nawalnys Witwe hat unlängst an der Münchner Sicherheitskonferenz teilgenommen. Sie kritisierte dort Putin scharf, den sie in der Verantwortung sieht für den Tod ihres Mannes. Wie ist das möglich, dass sie so rasch nach München gekommen ist?

Baud: Ich staune, dass Julia Nawalnaja kurz nach dem Tod ihres Mannes bereits an der Konferenz präsent war. Es ist möglich, dass westliche Politiker sie nun als nächste Oppositionspolitikerin in Russland aufbauen werden. Das erinnert mich an Swjatlana Zichanouskaja, die in Belarus lange auch im Schatten ihres Mannes stand, der jetzt im Gefängnis ist.

Weltwoche: Was für Auswirkungen hat Nawalnys Tod nun in politischer Hinsicht? Wer profitiert davon?

Baud: Für Putin ist das Ganze sehr ungünstig, bis zuletzt ist für ihn vieles gut gelaufen. Man denke nur an das Tucker-Carlson-Interview, das für den russischen Präsidenten ein Erfolg war. Er konnte die russische Sicht auf die Welt plausibel erklären. Nun stehen in einem Monat die Präsidentschaftswahlen in Russland an. Putin kontrolliert nun Awdijiwka, die Ukrainer haben sich von dort zurückgezogen. Warum die russische Regierung Nawalny genau jetzt ermordet haben soll, das sehe ich nicht ein. Aus westlicher Sicht sieht die Sache anders aus. Die USA wiederum sind in einer ungünstigen Position, auch wegen des Israel-Palästina-Konflikts. In der Ukraine herrscht Instabilität vor. Zudem spielt Nawalnys Tod nun auch denjenigen in die Hände, die sich gegen Verhandlungen mit Russland aussprechen und in der Ukraine bis zum bitteren Ende weiterkämpfen möchten. So gesehen, hat der Westen eher ein Interesse an Nawalnys Tod. Kommt hinzu: Im Kampf um die Deutungshoheit kommt dieser dem Westen gerade gelegen. In London steht jetzt das Schicksal des Journalisten Julian Assange auf dem Spiel, und nun blicken wir alle nach Moskau.

Weltwoche: Eine Lösung in der Ukraine ist also erneut in weite Ferne gerückt?

Baud: Vieles spricht dafür. Selenskyj und US-Präsident Joe Biden wehrten sich zuvor schon gegen Verhandlungen. Selenskyj hat ein Gesetz verabschiedet, das besagt: Solange er Präsident ist, wird es keine Verhandlungen mit Putin geben. Der Tod Nawalnys ist Wasser auf den Mühlen der Kritiker einer Ukraine-Lösung.

Die 3 Top-Kommentare zu "«In Russland weitgehend bedeutungslos»"
  • Ushuaia

    Äusserst interessanter Artikel! Auch der zweitletzte Satz, der mit Nawalny nichts zu tun hat: Selenskyj hat ein Gesetz verabschiedet, das besagt: Solange er Präsident ist, wird es keine Verhandlungen mit Putin geben. Mit andern Worten; Nawalny hin oder her, die Ukraine WILL keinen Frieden.

  • mac donald

    Interessante Hinweise👍 Mal ganz einfach gedacht: Todesursache Herzinfarkt, Blutgerinnsel? Kommt mit bekannt vor. Danach durch die Medien mit Vermutungen hoch gepusht. Wann platzt der Ballon?🤔

  • Herbert Stalder

    Die Weltwoche hat 2 Sichtweisen zum Hinschied von Alexei Nawalny veröffentlicht. Diejenige des Nachrichtenoffiziers Jacques Baud, und diejenige des Universitätsprofessor Georges Nivat aus Genf im Nachruf. Beide Sichtweisen geben zum Nachdenken Anlass.