Social Media ist die Keimzelle für allerlei Kuriositäten, und so entdeckte ich bei Tiktok den «Boyfriend-Test». Frauen, die sich «Video Creator» nennen, testen fremde Männer auf ihre Treue, angeheuert von deren Partnerinnen, die das ungute Gefühl plagt, vom Mann belogen und betrogen zu werden. Unter falschem Namen schreiben die «Video Creators» ihn bei Facebook oder Instagram an. Sie sind zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt und überdurchschnittlich attraktiv. Die Mehrzahl der Männer fällt beim Test durch. Bei Tiktok wird der (anonymisierte) Textverlauf dann in einem Kurzvideo hochgeladen, unterlegt mit dramatischer Musik – und Millionen User sehen sich das an.
Konkret läuft es so ab: Sie eröffnet die Annäherung, indem sie erst einen Post oder ein Bild von ihm likt, dann umgarnt sie ihn allmählich mit süssen Nachrichten und Smileys: «Hey. Ich habe dich bei meinen Vorschlägen entdeckt.» «Du kommst mir bekannt vor.» «Ich habe dich neulich in der Bar gesehen.» Die Chats werden flirtiger, sie macht unmissverständliche Avancen, vielleicht wird aber auch er selbst aktiv, lädt zum Date ein. Wer anbeisst, fällt durch, wer sich aus dem Chat mit Hinweis auf seine Beziehung zurückzieht oder alles ignoriert, besteht. Das Resultat wird der Frau gezeigt. Je nachdem, wie sich der Antwortverlauf präsentiert, wird der Test kommentarlos beendet.
Entpuppt er sich als scheinbar williger Fremdgänger, ist der weibliche Applaus noch viel grösser.
Früher beauftragte man einen Detektiv, der den potenziellen Fremdgänger ausspioniert, im 21. Jahrhundert sind es Laien im Internet, die sich fürs Fallenstellen erwärmen und sich damit eine ansehnliche Followerschaft aufbauen. «Folge mir gerne für weitere Boyfriend-Tests» – der Aufruf am Ende des Videos darf nicht fehlen. Es gibt auch Agenturen, die entsprechende Dienste anbieten. Bei Deutsch-Tiktok haben sich überwiegend Frauen auf Männerchecks spezialisiert, einige führen ihre Täuschungen gratis aus, andere verlangen Geld; in den USA verdienen sie damit im Schnitt hundert Dollar, Aufträge erhalten sie nicht zu knapp. Die grosse Mehrheit, die sich diese Videos ansieht, sind ebenfalls Frauen.
Interessant sind die Reaktionen in der Kommentarspalte. Lehnt er ab, sind die Damen entzückt, es gibt viele Likes. Entpuppt er sich als scheinbar williger Fremdgänger, ist der weibliche Applaus (für die Testerin) noch viel grösser, seine Überführung lässt so manche in einen Zustand funkensprühender Erregung geraten. Für den «gottlosen Bastard» drückt man seine tiefste Verachtung aus, genauso wie die Testerin im Video, und: «Sie tut mir so unfassbar leid.» Dass das Nichtbestehen des Tests nicht automatisch bedeutet, dass der ahnungslose «Bastard» im echten Leben auch wirklich durchziehen würde, was er im Internet angedeutet hat, tut nichts zur Sache. Die meisten finden die «Arbeit» (!) der Kreatorin «klasse». Eine Minderheit weist darauf hin, dass man, statt hintenherum zu testen, die Beziehung besser gleich beenden sollte.
Mal abgesehen davon, dass es befremdet, wenn das Austricksen von Menschen und seine Zurschaustellung auf Social Media Massen begeistern – einer Beziehung ohne Vertrauen ist tatsächlich keine allzu lange Dauer beschieden. Das Anheuern eines Testers ist ein Vorbote des Scheiterns.
Mich treibt aber eine andere Frage um. Die meisten Männer fallen also durch. Machen wir es mal umgekehrt, entwickeln ein männliches Fake-Profil mit Attributen, die für viele Frauen attraktiv sind – gutaussehender Kinderarzt mit eigener Praxis, 1,83, durchtrainiert, klettert in seiner Freizeit auf 4000er und engagiert sich wohltätig. Und dieser Mann schreibt durchschnittliche Frauen im Internet an und schenkt ihnen mehr als nur ein Quäntchen Beachtung. Ich würde gerne sehen, wie viele Damen in fester Bindung keine Notiz von ihm nehmen würden, seine Flirtversuche ignorieren oder ihn von Anfang wissen lassen: «Sorry, ich habe einen Partner. Bitte schreib mir nicht mehr.» Oder der Verlockung eines vorgeschlagenen Dates nicht widerstehen. Ich glaube, ich würde für keine einzige Frau dieser Welt die Hand ins Feuer legen.
Frauen haben Männer überholt, was Untreue angeht, das zeigen Studien. Dass Leute bei Versuchungen schwach werden, ist menschlich. Wir alle haben eine gewisse Empfänglichkeit für Schmeichelei und reizvolle Avancen. Scheinheiligkeit wirkt also ein bisschen fehl am Platz.
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