Freiburg

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über die internationalen Wirtschaftsbeziehungen geredet wird. Von Deglobalisierung ist die Rede, von einer Rückverlagerung von Produktion nach Europa, von der Souveränität Europas insbesondere handelspolitisch, von einem Schutz vor Direktinvestitionen in sicherheitsrelevanten Bereichen, subtiler noch: von «fairem» Handel oder friend-shoring, dem Handel mit befreundeten Staaten.

Das Ende der Globalisierung – so oder so ähnlich lässt sich der Tenor dieser Diskussionen zusammenfassen. Dabei war nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor dreissig Jahren noch vom Ende der Geschichte die Rede. Löst eine neue Übertreibung die alte ab?

In der Tat muss man feststellen, dass die alte Weltordnung zusammengebrochen ist. Der Ukraine-Krieg ist der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die vermutlich ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges eingesetzt hat und nicht zufällig mit dem Amtsantritt Putins als Präsident Russlands zusammenfällt.

Finnlandisierung Südostasiens

Die alte Weltordnung war als Prozess friedlicher Koexistenz gestaltet, nachdem die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in der Kubakrise nahe an den Beginn eines Krieges geraten waren. Mit der Helsinki-Akte von 1975 folgten Schritte der Entspannung und Abrüstung, einer zunehmenden Kooperation, nicht zuletzt im Aussenhandel der beiden Blöcke. Rückblickend scheint dieser Prozess zielgerichtet auf den Fall des Eisernen Vorhangs zuzulaufen, obwohl die Geschichte nicht derart deterministisch ist.

Mit der Wahl Putins zum russischen Präsidenten, der schon bald etwa mit der Beseitigung zarter Pflänzchen des Föderalismus in Russland seine Macht konsolidierte, begann das allmähliche Abrücken Russlands von dieser Weltordnung, eskalierte mit der Besetzung der Krim im Frühjahr 2014 und ist mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im vergangenen Jahr offensichtlich.

Die westlichen Wirtschaftsnationen errichten hohe Hürden, um ihre Interessen zu verfolgen.Wichtiger noch dürfte aber der weltpolitische Aufstieg Chinas sein. China war nie umfänglich in die Weltordnung einer friedlichen Koexistenz von Staaten eingebunden. Der Westen hatte die Hoffnung, China durch Handel und Direktinvestitionen so einzubinden, dass es einen allmählichen Übergang zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schaffen und dabei ein friedliches Zusammenleben mit seinen Nachbarn erreichen würde. Diese Hoffnung besteht heute kaum mehr. China ist zunehmend nationalistisch und expansionistisch geworden. An der Demarkationslinie zwischen China und Indien vom Anfang der 1970er Jahre finden seit einiger Zeit bewaffnete Auseinandersetzungen statt. China bedroht Taiwan zunehmend. Die Philippinen leiden immer wieder unter Seeblockaden durch chinesische Fischereiflotten oder die chinesische Marine. Es droht eine Finnlandisierung Südostasiens, die der Westen nicht einfach hinnehmen kann.

Abhängigkeiten von China

Diese kurze Charakterisierung der jüngeren Entwicklung legt in der Tat den Schluss nahe, dass die Globalisierung zu ihrem Ende gekommen ist. Gemäss den Informationen der Datenbank von Simon Evenett an der Universität St. Gallen nimmt der Protektionismus in der Welt seit der Finanzkrise zu. Dementsprechend ist die Globalisierung seit dem Jahr 2008 zum Stillstand gekommen, der internationale Handel stagniert – von kurzfristigen Schwankungen abgesehen.

Die hochentwickelten westlichen Wirtschaftsnationen errichten hohe aussenwirtschaftliche Hürden, um ihre sicherheitspolitischen Interessen zu verfolgen. Dabei geht es vor allem um Abhängigkeiten von China bei der Lieferung von Rohstoffen, Zwischen- und Endprodukten sowie dessen Bedeutung als Absatzmarkt für westliche Produkte. Der Aussenhandel mit Russland lässt sich hingegen leichter unterbrechen, da die russische Wirtschaft für den Westen vor allem Rohstofflieferant ist.

Aus der Analyse der aktuellen aussenpolitischen Lage den Schluss eines Endes der Globalisierung zu ziehen, ist jedoch verfrüht. Gewiss, Handel kann keine Aussenpolitik ersetzen und ist nicht wirkmächtig genug, um umfassende Demokratisierungsprozesse zu bewirken. Gleichwohl steigern freier Handel und freier Kapitalverkehr Wohlstand und Einkommen in den beteiligten Ländern.

Bewaffnete Konflikte vermeiden

Die Globalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat eine enorme Anzahl von Menschen aus der Armut in bessere Lebensumstände geführt. Keine Verteilungspolitik kann für sich in Anspruch nehmen, ähnlich effektiv gegen Armut in der Welt zu wirken wie die Teilhabe der Menschen weltweit an der internationalen Arbeitsteilung.

Die Anzahl der Menschen in extremer Armut sank gemäss den Angaben der Weltbank von rund zwei Milliarden Personen im Jahr 1990 auf 648 Millionen im Jahr 2019 – dies bei einer Zunahme der Weltpopulation von 5,3 Milliarden Menschen 1990 auf 7,8 Milliarden im Jahr 2020. Mit der Corona-Pandemie gab es einen Anstieg absoluter Armut um rund 70 Millionen Personen, den es mit dem Ende der Corona-Beschränkungen zu korrigieren gilt.

Die neue Dominanz der Aussen- und Sicherheitspolitik bedeutet zudem keineswegs, dass der Prozess der Globalisierung zu Ende ist. Die aktuellen Entwicklungen zeigen vielmehr, wie wichtig es ist, über eine gezielte Abschreckung durch die westlichen Demokratien den nationalistischen Expansionsdrang autokratischer Staaten einzudämmen.

Das Ziel der aussenpolitischen Strategien muss es sein, bewaffnete Auseinandersetzungen zu vermeiden, gerade um weiterhin Handel mit diesen Staaten treiben und in diesen Ländern investieren zu können. Jede dieser Investitionen ist vor dem veränderten aussen- und sicherheitspolitischen Hintergrund neu auf ihre Risiken hin zu überprüfen – und zwar von den jeweiligen Unternehmen selbst. Der zuweilen geforderte Rückzug von multinationalen Unternehmen aus China ist überzogen.

Dabei ist es wichtig, zu erkennen, dass über die wirtschaftlichen Beziehungen keine sonstigen politischen Forderungen transportiert werden können. Politisch-moralische Ansprüche, wie sie im deutschen Lieferkettengesetz enthalten sind, überschätzen den Einfluss ausländischer Unternehmen in autokratischen Staaten. Würde der Westen seine politisch-moralischen Ansprüche zu hoch ansetzen, bliebe wenig Handel übrig. Wenn man seine Ansprüche zu hoch ansiedelt, hat man irgendwann keine Freunde mehr. Friend-shoring kann für umfassende Handelsabkommen gelten und dabei die Frage ins Spiel bringen, wie es der entsprechende Staat mit dem Westen hält. Es ist die Sicherheitsrelevanz, die zu Einschränkungen von Handelsaktivitäten Anlass geben kann. Es geht nicht darum, ob man einen Staat sympathisch findet.

Ein Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU zusätzlich zu den Bilateralen wäre zielführend.Gleichwohl gilt hinsichtlich der Sicherheitsrelevanz, dass diese Forderung nicht zum Einfallstor für Protektionismus werden darf. Nach der Verschärfung des Aussenwirtschaftrechts in der EU und dessen Umsetzung in nationales Recht scheiterte Anfang 2021 eine Übernahme des französischen Supermarktkonzerns Carrefour durch die kanadische Alimentation Couche-Tard an einem angedrohten Veto der französischen Behörden. Die Eigenständigkeit Frankreichs bei der Nahrungsmittelversorgung stehe auf dem Spiel – so die sicherheitspolitische Begründung von Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire. Dies erinnert an die gescheiterte Übernahme von Danone durch Pepsico im Jahr 2005. Französischer Protektionismus wusste schon immer das Sicherheitsargument zu bemühen.

Was ist also zu tun? Es gilt, die Vorteile des internationalen Handels, der internationalen Investitionstätigkeit, der Globalisierung zu sichern. Globalisierung ist nicht am Ende, sie braucht aber eine neue Dynamik durch eine neue Handelspolitik. Dazu gehören die Abschlüsse neuer Handelsabkommen, die bei weitem nicht den Ambitionen gescheiterter Abkommen, wie dem europäisch-amerikanischen Abkommen TTIP, entsprechen müssen.

Jeder Schritt der Handelsintensivierung auf einer niedrigeren Schwelle ist begrüssenswert. Dies gilt vor allem für den Handel zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, aber ebenso für die aussenwirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich oder der Schweiz.

Ein Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU zusätzlich zu den bilateralen Verträgen wäre zielführend. Die EU-Mitgliedstaaten sollten zudem das Abkommen mit dem Mercosur möglichst bald ratifizieren und die Verhandlungen mit anderen Staaten, etwa Neuseeland und Australien, zu einem guten Ende bringen.

Vorteil des freiwilligen Tauschs

Bilaterale Abkommen können allerdings die Ordnung des multilateralen Handelssystems nicht ersetzen. Regionale Präferenzabkommen zwischen einzelnen Wirtschaftsräumen tendieren dazu, andere zu diskriminieren. Vor allem kleinere Staaten haben dadurch Nachteile. Das durch die Welthandelsorganisation (WTO) festgelegte Prinzip der Meistbegünstigung ist wesentlich für Nichtdiskriminierung. Trotzdem braucht die WTO einen Neustart.

Handel kann keinen Frieden schaffen. Das bleibt Aufgabe der Politik, im ungünstigsten Fall eine militärische Aufgabe. Jedoch: In einem Umfeld friedlicher Koexistenz gedeihen Handel, internationale Kooperation und der damit verbundene Wohlstand. Ökonomie stellt auf den freiwilligen Tausch zum gegenseitigen Vorteil ab. Ist der Tausch nicht zum gegenseitigen Vorteil, dann findet er freiwillig nicht statt. Ist Tausch freiwillig, dann ist er zum gegenseitigen Vorteil. Zwang ist diesem Kalkül fremd.

Lars P. Feld ist Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Universität Freiburg i. Br. und Direktor des Walter Eucken Instituts daselbst. Er war von 2011 bis 2021 im Rat der «Wirtschaftsweisen».