Hans Hasler (Hg.): Rudolf Steiner über die Schweiz. Verlag am Goetheanum. 188 S., Fr. 19.90

Der Empfang, den man in der Schweiz dem Österreicher Rudolf Steiner bereitete, war nicht gerade besonders freundlich. Löste doch bereits die Grundsteinlegung für das von Steiner 1913 als Begegnungsstätte für seine «Anthroposophische Gesellschaft» konzipierte Goetheanum in Dornach bei Basel vor allem beim lokalen Klerus grosse Befürchtungen aus.

In diesen Kreisen hielt man die Lehre Steinersfür einen «ernsten Irrtum» und versuchte durch ein Gesuch an die Solothurner Regierung den Bau zu verhindern. Der Einspruch scheiterte. Doch kaum zehn Jahre später, in der Silvesternacht des Jahres 1922, wurde das Goetheanum durch Brandstiftung völlig vernichtet.

Zwei Jahre danach, kurz vor der Vollendung seines 63. Lebensjahrs, erhielt Steiner einen unerklärlichen Schwächeanfall; es folgte ein langsames Dahinsiechen, das am 30. März 1925 mit seinem Tod endete. Schlägt man Steiners Autobiografie «Mein Lebensgang» an der Stelle nach, wo der Text plötzlich abbricht, findet man im kurzen Nachwort seiner Witwe die Notiz, die auf diese Begebenheit und den Goetheanum-Brand anspielt: «Sie wüteten mit Gift und Flamme.» Wobei bis heute ungeklärt bleibt, auf wen Marie Steiner hier konkret anspielt.

Trotz dieser schweren Geburtswehen hat sich die anthroposophische Bewegung als eigenständiger Impuls und Alternative zur klassischen Sichtweise in vielen gesellschaftlichen Bereichen der Schweiz mit einem dichten Netzwerk von Institutionen fest etabliert, das von der Pädagogik über die Landwirtschaft und die Seelsorge bis hin zur Medizin und Heilmittelherstellung reicht. Und dies obwohl sich bereits Generationen von Kritikern an den manchmal kuriosen, aber meist zeitbedingten Äusserlichkeiten der Bewegung und an ihren Repräsentanten intensiv abgearbeitet haben.

Er war überzeugt, dass die Schweiz «mit einer riesigen Mission, trotz ihrer Kleinheit» ausgestattet ist.

Anthroposophie erschöpft sich allerdings nicht im Aufzeigen von Alternativen zur Erneuerung von Kultur und Gesellschaft. Nach einem Wort ihres Initiators ist sie in erster Linie ein «Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte». Sie zielt zentral auf die Erneuerung des Christentums auf der Grundlage eines meditativen Wegs zur Erlangung geistiger Schau. Sie ist «in allen Einzelheiten ein Streben nach der Durchchristung der Welt».

Mustergültiges Zusammenleben

Rudolf Steiner hat sich von den Anfangsschwierigkeiten seiner Bewegung in der Schweiz nicht weiter beirren lassen und blieb dem Land auch nach der Zerstörung des ersten Goetheanums weiter verbunden. Der Grund dafür war seine Überzeugung, dass die Schweiz «mit einer riesigen Mission, trotz ihrer Kleinheit» ausgestattet sei.

Dies gilt zum einen für die Lösung der sozialen Frage, die sie «aus freiem Willen» lösen könnte, dort wo die anderen, wie im Osten, durch revolutionäre Umstände dazu nicht in der Lage sind oder wo, wie im Westen, die notwendigen Anlagen fehlen. Speziell das von Steiner entwickelte ordnungspolitische Konzept eines dreigliedrigen Organismus, in dem die gesell-schaftlichen Prozesse nicht zentral durch den Staat gesteuert werden, sondern in drei voneinander getrennten, autonomen Bereichen stattfinden (Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben), «könnte ganz besonders stark hier in diesem Land, das mit Recht stolz ist auf seine alte Demokratie, verwirklicht werden».

Der andere Bereich, in dem der Schweiz nach Ansicht von Rudolf Steiner eine grosse Aufgabe zukommt, ist der Bereich der internationalen Beziehungen. Lebt doch gerade bei kleinen Völkern «sehr stark etwas von einem internationalen Element, wenigstens der Anlage nach». Sollte es diesen Völkern gelingen, sich mit den geistigen Entwicklungsgesetzen vertraut zu machen, so könnten sie vieles «zur Internationalisierung und Kosmopolitisierung der Menschheit» beitragen.

Als eine von der Schweiz nicht genutzte historische Gelegenheit nennt Steiner in diesem Zusammenhang die Lage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und betont, «was es bedeutet hätte, wenn eine grosse, internationale kosmopolitische Aufgabe vom Schweizer Volk von 1914 an ergriffen worden wäre. Dieses Ergreifen einer solchen Aufgabe in einem verhältnismässig kleinen Land würde in der geistigen Weiterentwicklung ungefähr so darinnen stehen können wie ein Mittelpunkt, um den sich manches dreht.»

Von dieser Mittelpunktfunktion der Schweiz und der dafür erforderlichen Neutralität sind wir heute jedoch weiter entfernt als jemals zuvor. Dies, obwohl bereits Rudolf Steiner wusste, «dass es den Bewohnern dieses Landes, wo in mustergültiger Weise drei Nationen zusammenleben, von der allergrössten Wichtigkeit ist, dass sie das, was für ihr Staatsgebiet das wahrhaft innerste Interesse ist, den Geist der Neutralität, aufrechterhalten können».