Die digitale Transformation des staatlichen Gefüges wird sich als Zäsur historischen Ausmasses erweisen. Die Vorstellung, alles würde im gewohnten Trott weitergehen – lediglich in ein neues digitales Gewand gekleidet –, ist bestenfalls naiv. In einer digitalisierten Welt gelten andere Regeln. Auch wenn Bürger, Bürgerinnen und Unternehmen die Auswirkungen womöglich erst in Jahren wirklich spüren werden, wird das Fundament für diese neue Welt eines digitalen Staates in diesem Augenblick gelegt. Was geschieht da also? Es ist wichtig, das zu verstehen – und aktiv an diesem Fundament mitzubauen.

 

Gefährliche Kontrollmöglichkeiten

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Digitalisierung bereits viele Bereiche des Lebens durchdrungen und umgekrempelt. Etliche positive Veränderungen wurden angestossen. Allerdings lassen sich inzwischen auch die erheblichen Schattenseiten nicht mehr leugnen. Man denke etwa an die mentalen Belastungen einer andauernden digitalen Transformation in Organisationen und im Alltag, den ausufernden Einfluss von digitalen Plattformen und den dahinterstehenden Technologiekonzernen. Man denke auch an die Macht künstlicher Intelligenz in den Händen weniger oder die Exzesse des Überwachungskapitalismus mit seinem permanenten Tracking und den vielfältigen Tricks, die Nutzer dazu bringen, permanent online zu bleiben.

Zeitverzögert, dafür aber umso rasanter gerät nun auch der Staat in den Sog dieser Entwicklung. Die Fachwelt beleuchtet und diskutiert einige Ausschnitte des Geschehens, dennoch findet ein Grossteil der tatsächlichen Veränderungen von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und unbeobachtet statt. Das ist gefährlich. Denn genau jetzt werden die technologischen Infrastrukturen geplant und die digitalen Systeme entworfen, die darüber bestimmen, in welche Richtung sich die staatlichen Institutionen entwickeln werden und wie sie das künftige Leben der Bevölkerung beeinflussen. Nicht morgen, sondern jetzt wird also auch die Balance von Macht und Einfluss im politischen System neu verhandelt und das Zusammenspiel der Institutionen neu austariert.

Bedauerlicherweise leidet der digitale Staat dabei (unbeabsichtigt) an einer Art Geburtsfehler. Wie im privatwirtschaftlichen Sektor wird die Notwendigkeit der Digitalisierung staatlicher Institutionen, Strukturen und Prozesse oft mit einer verbesserten Effizienz begründet. Während Effizienzsteigerungen auch im öffentlichen Sektor an sich begrüssenswert sind, ist allerdings nur wenigen bewusst, zu welchem Preis sie in einer digitalen Welt erkauft werden müssen: Effizienz lässt sich vor allem dadurch steigern, dass (digitale) Prozesse oder Vorgänge optimiert werden. Um optimieren zu können, braucht es wiederum Informationen über die Prozesse und Vorgänge, die zunächst erhoben werden müssen. Wenn die Informationen nun aber digital erhoben werden, können sie dauerhaft gespeichert werden, sind leicht auffindbar und stehen somit immer wieder für weitere Auswertungen zur Verfügung. Solche Informationserhebungen mögen nicht direkt auf eine (spätere) Kontrolle zielen, allerdings erleichtern und ermöglichen sie diese immer auch. Das gilt umso mehr im staatlichen Kontext der Machtausübung. Man muss sich daher bewusst machen: Effizienzsteigerungen im digitalen Raum implizieren zugleich Kontrolle. Anders ausgedrückt: In der digitalen Welt weitet die Optimierung quasi per Definition die Kontrollmöglichkeiten aus und erhöht damit auch die Risiken, diese Möglichkeiten (früher oder später) zu missbrauchen.

Nicht von ungefähr löst daher gerade in funktionierenden Demokratien bei vielen Bürgerinnen und Bürgern das Thema «Digitalisierung und Automatisierung staatlicher Prozesse» zunächst einmal Unbehagen aus. Häufig überwiegt nicht der Gedanke an die Vorteile eines modernen, effizienten und bequemen Dienstleistungsstaates und an alles, was möglich wäre in einem positiven, dem Bürger dienenden Sinne. Vielmehr dominiert bei vielen die Angst vor einem Überwachungsstaat im Sinne von George Orwell. Völlig aus der Luft gegriffen sind solche Dystopien nicht. Auch wenn sie nicht selten übertreiben, einzelne negative Aspekte vereinfachend überhöhen und Gegenreaktionen in der Regel ausblenden, beinhalten sie oft einen bedenkenswerten Kern.

Macht und Einfluss könnten sich mit einem Mal auf einige wenige Institutionen konzentrieren.

Keine Frage: Die Vorstellungen und Visionen eines modernen, datenerhebenden und datenverarbeitenden Staates können nur attraktiv sein, wenn sie verlässliche Missbrauchsprävention, Datenschutz und Netzwerksicherheit sowie – und das wird häufig übersehen – entsprechend angepasste Institutionen mitdenken.

Der positive, dem Bürger dienende digitale Staat ist, so gesehen, kein Selbstläufer. Die Herausforderung insbesondere für Demokratien westlicher Prägung besteht darin, die staatlichen Institutionen, Prozesse und Tätigkeiten so zu digitalisieren, dass sie sich auch langfristig auf Bevölkerung und Wohlstand positiv auswirken.

Dabei sind wir davon überzeugt: Wird die staatliche Digitalisierung auf die gleiche durchrüttelnde Weise von den digitalen Dynamiken angetrieben, die schon die Wirtschaft vielfach unvorbereitet trafen und bis heute prägen, dann ist das verlässliche Funktionieren des demokratischen Systems gefährdet. Den politischen Institutionen drohen dann ähnlich disruptive Umwälzungen wie den Einzelhändlern und dem Vertrieb durch die digitalen Plattformen des Onlinehandels, wie der Musik- und Entertainment-Industrie durch die Streaming-Dienste oder den traditionellen Medienunternehmen durch soziale Medien und Suchmaschinen.

 

«Checks and Balances»

Die unerbittlichen digitalen Dynamiken unterminieren dann das gewohnte demokratische Zusammenspiel und hebeln insbesondere die so wichtigen «Checks and Balances» durch die horizontale und vertikale Gewaltenteilung aus. Macht und Einfluss könnten sich dann mit einem Mal (wieder) auf einige wenige Institutionen konzentrieren. Im schlimmsten Fall feierten dann überwunden geglaubte Gesellschaftsordnungen ein (nun digital fundiertes) Comeback. Mehr oder weniger ausgeprägte Spielarten eines autokratischen Überwachungsstaates, einer datenbasierten staatlichen Planwirtschaft oder eines hierarchischen digitalen Kastensystems könnten sich erneut etablieren – übergangsweise oder auch dauerhaft.

Entgegen einer weitverbreiteten Annahme – und wie im Verlaufe des Buches vertieft gezeigt wird – spielt der digitale Fortschritt aufgrund der ihn prägenden digitalen Dynamiken eher den Autokraten und diktatorischen Systemen dieser Welt in die Hände. Denn diese Dynamiken vereinfachen die zentralistische Steuerung, untergraben die Gewaltenteilung, stützen den Status quo und erschweren die progressive, experimentierfreundliche Weiterentwicklung einer offenen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Ausserdem erleichtern es diese Dynamiken, die Überwachung der Bevölkerung auch in bisher nicht betroffene Bereiche auszudehnen. Gleichzeitig sinken die Kosten dafür erheblich.

Der digitale Fortschritt spielt eher den Autokraten und diktatorischen Systemen dieser Welt in die Hände.

Wir schlagen insgesamt sieben Massnahmen vor, um zentrale demokratische Institutionen wie Parlament, Verwaltung und Rechtswesen digital-technologisch gestützt zukunftsfest zu machen. Unsere Massnahmen zielen vor allem darauf ab, die institutionellen Rahmenbedingungen anzupassen, um auch künftig das ausbalancierte Zusammenspiel der staatlichen Institution zu gewährleisten – etwa

_ indem datenunterstützte Parlamente fundiertere und bessere regulatorische Entscheidungen auf Augenhöhe mit einer digitalisierten Verwaltung treffen können;

_ indem technologisch unabhängige Gerichte ihren Platz in der demokratischen Grundordnung verteidigen, weil sie in der Lage sind, Streit auch in einer digitalen und immer multidimensionaleren Welt zu schlichten;

_ indem massgeschneiderte IT-Lösungen in einer dezentralen Umgebung entwickelt und eingesetzt werden können;

_ indem algorithmisierte und automatisierte Systeme die Menschen unterstützen, anstatt sie rund um die Uhr zu kontrollieren. Gerade der Erhalt der Machtbalance zwischen den staatlichen Gewalten ist dabei eine zentrale Bedingung für das dauerhafte Bestehen und Funktionieren einer modernen Demokratie – und damit auch für das Vertrauen der Bürger in den Staat und das Bestehen im internationalen Wettbewerb.

Unsere Vorschläge sollen daher auch verhindern, dass die staatlichen Institutionen in einen unerwarteten, neuartigen digitalen Machtkampf mit sich selbst abgleiten. Nicht von ungefähr wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung seit je von «digitaler Revolution» gesprochen. Die mit einer Revolution üblicherweise einhergehende ungemütliche und auch gefährliche Transitionsphase gilt es zu vermeiden. Wir sind auch davon überzeugt, dass es möglich ist, die oft ins Feld geführte Gegensätzlichkeit – hier: Das Datensammeln und -verarbeiten im staatlichen Kontext ist prinzipiell gefährlich und daher schlecht, da: Das Verhindern von Datensammeln und -verarbeiten ist prinzipiell sicherer und daher gut – zu überwinden. Es muss die Möglichkeit bestehen, die Vorteile der Digitalisierung zu geniessen, ohne dafür den zu hohen Preis der Bevormundung oder des Verlustes von Freiheit und Selbstbestimmung zahlen zu müssen, wie es derzeit so oft der Fall ist.

 

Christian R. Ulbrich ist Leiter und Mitbegründer der Forschungsstelle für Digitalisierung in Staat und Verwaltung (e-PIAF) an der Universität Basel.

Bruno S. Frey ist ständiger Gastprofessor an der Universität Basel sowie Forschungsdirektor bei Crema (Center for Research in Economics, Management and the Arts), Zürich.

Der vorliegende Text ist ein Auszug des soeben erschienenen Buches von Christian R. Ulbrich und Bruno S. Frey: Automated Democracy — Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat. Herder. 384 S., Fr. 36.50.