Vor einigen Monaten lernte ich auf einem Symposium einen jungen Klimaforscher aus Österreich kennen. Ein kluger Kopf mit einer beeindruckenden Publikationsliste in den renommiertesten Fachzeitschriften. Er erzĂ€hlte mir, er habe kĂŒrzlich mit seiner Arbeitsgruppe wissenschaftlich seriös durchkalkuliert, dass man innerhalb von nur zehn Jahren Deutschland komplett dekarbonisieren könne. Auf meine Frage, wie er sich das denn in der Praxis vorstelle in einem Land, das bereits fĂŒr den Bau eines simplen Flughafens vierzehn Jahre benötige, zuckte er nur mit den Schultern.

Diese unfreiwillig komische Begebenheit zeigt ein fundamentales Grundproblem der Klimaschutzdebatte auf: der oftmals fehlende Praxisbezug der jeweiligen Protagonisten. Die öffentlichen Statements ĂŒber die Machbarkeit der ökologischen Transformation, ĂŒber KlimaneutralitĂ€t und Energiewende werden fast ausschliesslich von Personen dominiert, die niemals «an der Front» gearbeitet haben. In den zahllosen Polit-Talkshows, die allwöchentlich ĂŒber den Äther flimmern, sucht man vergeblich nach Kraftwerkstechnikern, Logistikern, Bauleitern, Ingenieuren oder Facharbeitern. Menschen also, die zu dieser Thematik etwas Entscheidendes beitragen könnten.

Es wĂ€re doch durchaus erhellend, einmal von Profis, die ihr gesamtes Berufsleben lang komplizierte Anlagen betreiben, instand halten oder unter Zeitlimits und Kostendruck grosse Bauprojekte verwirklichen, eine EinschĂ€tzung ĂŒber die Realisierbarkeit der Energiewende zu hören. Denn nur weil etwas auf dem akademischen Reissbrett funktioniert, heisst das noch lange nicht, dass es auch fĂŒr die Wirklichkeit gilt.

Zu spĂ€t fĂŒr den RĂŒckflug

Ein Beispiel: Im Kinofilm «Sully», der von der spektakulĂ€ren Flugzeugnotlandung auf dem Hudson River handelt, gibt es eine eindrĂŒckliche Szene: Der Pilot Chesley Sullenberger (gespielt von Tom Hanks) muss sich Wochen spĂ€ter vor der amerikanischen Flugsicherheitsbehörde verantworten. Ihm wird vorgeworfen, er hĂ€tte durch die Wasserlandung die Maschine unnötig in Gefahr gebracht. Die von Experten nachtrĂ€glich durchgefĂŒhrten Computersimulationen wĂŒrden nĂ€mlich zeigen, dass er nach dem Triebwerksausfall problemlos den rettenden Flughafen LaGuardia hĂ€tte erreichen können.

In der Anhörung wendet Sully ein, dass die Simulation der Experten den menschlichen Faktor ausser Acht gelassen hat. Der RĂŒckflug am Computer funktionierte nur deswegen, weil die Simulationspiloten die Massnahmen genau in der Sekunde des Vogelschlags eingeleitet haben, was nicht realistisch ist. Selbst der erfahrenste Pilot benötigt in einer solchen Situation einen kurzen Moment, um SchĂ€den zu ĂŒberprĂŒfen und Optionen durchzudenken. Als man daraufhin die Simulationsexperten anwies, erst nach einer 35-sekĂŒndigen «Bedenkzeit» zu reagieren, war es fĂŒr den sicheren RĂŒckflug bereits zu spĂ€t. Sully war rehabilitiert.

Diese Geschichte hat sich in der RealitĂ€t exakt so zugetragen. Sie zeigt auf, dass komplexe Szenarien, die in der Theorie perfekt funktionieren, nicht eins zu eins auf die RealitĂ€t ĂŒbertragbar sind. Die Konstrukteure der Energiewende erinnern mich immer ein wenig an die SchreibtischtĂ€ter der amerikanischen Flugsicherheitsbehörde: fachlich gut ausgebildet, aber mit sehr wenig Praxisbezug. Intelligent, aber weltfremd.

Inzwischen gibt es bei uns eine Menge Professoren fĂŒr regenerative Energiesysteme, Forschergruppen fĂŒr die MobilitĂ€tswende oder akademische Think-Tanks, die sich mit der «grossen Transformation» unserer Gesellschaft beschĂ€ftigen. Ihre aufwendigen Machbarkeitsstudien zeigen anhand detaillierter Modellrechnungen, dass das alles problemlos realisierbar wĂ€re, wenn man denn nur wollte.

Auf dem Blatt Papier mag das ja sogar korrekt sein, und ich möchte Simulationen und Modellrechnungen keineswegs als substanzlos abtun. Sie stellen seriöse wissenschaftliche Methoden dar, die in vielen Forschungsfeldern unabdingbar sind.

Aber wie das Beispiel von «Sully» zeigt, ist es tĂŒckisch, die Simulation der RealitĂ€t mit der RealitĂ€t gleichzusetzen. In der Praxis kommt es naturgemĂ€ss bei jedem grösseren Projekt zu einer Vielzahl von Situationen, die die klĂŒgsten Theoretiker und die leistungsfĂ€higsten Grossrechner nicht von allein berĂŒcksichtigen können: LieferengpĂ€sse, Kostenexplosionen, Schwierigkeiten mit Zulieferfirmen, FinanzierungslĂŒcken, Rechtsstreitigkeiten mit Anwohnern, Probleme mit der Brandschutzanlage und manchmal auch ein Diktator mit Bluthochdruck und Allmachtsfantasien.

Wissenschaftler sind sehr gut darin, ein bestimmtes PhĂ€nomen zu untersuchen und darĂŒber zu grundsĂ€tzlichen Erkenntnisse zu gelangen: Welche Energiemenge transportiert der Golfstrom nach Europa? Wie kann ich den Wirkungsgrad eines Lithium-Ionen-Akkus verbessern? LĂ€sst sich die ErderwĂ€rmung reduzieren, indem ich nachts das Eisfach offenlasse?

Geht es jedoch um ein vielschichtiges Szenario, wie etwa den Umbau unseres gesamten Energiesystems, sind ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen mit Vorsicht zu geniessen. Denn hier spielen weit mehr Faktoren und Einflussgrössen eine Rolle als pure physikalische Gesetze und technische ZusammenhĂ€nge. Ist das Ganze organisatorisch zu stemmen? Ist es wirtschaftlich? Welche gesellschaftlichen Nachteile entstehen dadurch? Wollen es die Leute ĂŒberhaupt?

 

«Praktische Intelligenz»

Gerade diese Fragen sind extrem schwer zu ĂŒberblicken und wissenschaftlich zu bewerten. Erst recht von Leuten, die meist ihr gesamtes Berufsleben an einer UniversitĂ€t verbracht haben und noch nie ein grösseres Projekt in der Praxis realisieren mussten. Aber zwischen Theorie und Praxis liegen nun mal Welten.

Der Psychologe Gary Klein fĂŒhrt seit 1985 Feldforschungen durch, um herauszufinden, wie Menschen in komplexen, nicht routinemĂ€ssigen Situationen kluge Entscheidungen treffen: Feuerwehrleute, Kampfpiloten, Kernkraftwerksbetreiber oder Intensivmediziner. Klein fand heraus, dass diese Experten aufgrund ihrer jahrelangen Praxis ein intuitives Erfahrungswissen erworben haben, das es ihnen ermöglicht, blitzschnell Gefahren abzuschĂ€tzen und erstaunlich prĂ€zise Chancen und Risiken zu erkennen. Ausserdem entwickelten sie ein extrem gutes GespĂŒr dafĂŒr, ob eine bestimmte Situation ausweglos oder erfolgversprechend ist.

Die Psychologen Richard Wagner und Robert Sternberg bezeichnen diese FĂ€higkeit als «praktische Intelligenz». In ihren Forschungsarbeiten konnten sie sogar zeigen, dass praktische Intelligenz bei der BewĂ€ltigung von komplexen Projekten fast doppelt so wichtig ist wie theoretisch erworbenes Wissen. Wer noch nie in seinem Leben ein konkretes Projekt mit eigenen HĂ€nden durchgefĂŒhrt hat, kann noch so klug und so gut ausgebildet sein wie er will, aber er schĂ€tzt die Dinge oftmals falsch ein.

NatĂŒrlich sind PlĂ€ne wichtig. Sie dienen als Orientierungshilfen. Wenn die Deutsche Bahn keinen Fahrplan hĂ€tte, wĂŒssten wir auch nicht, wie gross die VerspĂ€tung ist. Doch die besten PlĂ€ne nutzen ĂŒberhaupt nichts, wenn man sie nicht regelmĂ€ssig mit der RealitĂ€t abgleicht.

 

Gescheiterte Energiewende

Bei dem Projekt «Energiewende» wÀre ironischerweise ein solcher RealitÀtscheck sogar möglich gewesen. Bereits im Jahr 2012 versuchte die nordfriesische Insel Pellworm energieautark zu werden. Eine Machbarkeitsstudie des Fraunhofer-Instituts ergab nÀmlich, dass die Insel ideal geeignet wÀre, um sich vollstÀndig aus regenerativen Energiequellen versorgen zu können.

Das Pilotprojekt Pellworm scheiterte trotzdem an der RealitĂ€t. WĂ€hrend der ganzen Projektphase war es zu keiner Zeit möglich, das Versorgungskabel vom Festland zu kappen. Ein paar Prozent zur Autarkie fehlten immer. Und das, obwohl der E.ON-Konzern rund zehn Millionen Euro in das kleine Projekt steckte, um dort neben den mĂ€chtigen Wind- und Solaranlagen riesige Energiespeicherblöcke zu installieren und die gesamte Insel mit digitalen StromzĂ€hlern zu ĂŒberziehen.

Das fĂŒhrte zwar dazu, dass die Insel beeindruckende 97 Prozent ihres Verbrauchs mit der erzeugten erneuerbaren Energie decken konnte. Doch um die VersorgungslĂŒcke von 3 Prozent (plus einen zusĂ€tzlichen Puffer) zu schliessen, hĂ€tte man doppelt so grosse Speicher benötigt, was das Projekt katastrophal unwirtschaftlich gemacht hĂ€tte. Das zeigt: Nur weil etwas technisch (fast) funktioniert, heisst das noch lange nicht, dass es auch rentabel ist.

Dass ein Vorhaben, das in der Theorie funktioniert, in der Praxis zu scheitern droht, ist ja keine Schande. Im realen Leben versagen viele Dinge, wie jeder weiss, der ĂŒber fĂŒnfzig ist und Körperteile hat. Problematisch wird das Ganze nur dann, wenn man bei der Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft ausschliesslich auf die Theoretiker hört und die kritischen Stimmen aus dem «Maschinenraum» ignoriert.

Aber vielleicht haben die Maschinisten ja auch zu wenig Zeit und Musse, um sich in irgendwelche Talkshows zu setzen. DarĂŒber hinaus weiss ich aus eigener Talkshow-Erfahrung, wie schwer es dort ist, einen komplizierteren Zusammenhang darzulegen, ohne nach dreissig Sekunden von anderen Teilnehmern unterbrochen zu werden.

Idealisten und Realisten

Doch egal, um welches Vorhaben es sich handelt: Kluge, umsetzbare Lösungen gibt es nur, wenn Theorie und Praxis Hand in Hand gehen. Wir brauchen definitiv Idealisten und VisionĂ€re, die in den Forschungsabteilungen der UniversitĂ€ten und Institute ambitionierte Ideen entwickeln. Aber wir brauchen genauso die hemdsĂ€rmeligen Realisten, die eine grosse Idee auf echte Praxistauglichkeit ĂŒberprĂŒfen und gegebenenfalls auf das Normalmass zurechtstutzen.

Oder wie der preussische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke vor 150 Jahren sagte: «Kein Plan ĂŒbersteht den ersten Feindkontakt.»

Wenn wir also einen wirklich umsetzbaren und realistischen Umgang mit dem Klimawandel haben möchten, dann mĂŒssen wir weniger auf den akademischen Elfenbeinturm hören, und erst recht nicht auf irgendwelche Aktivisten ohne jegliche Berufserfahrung. Es ist endlich an der Zeit, dass die Praktiker zu Wort kommen.

 

Vince Ebert ist Physiker, Kabarettist und Autor. Er moderierte jahrelang die ARD-Sendung «Wissen vor Acht». Sein Buch «Lichtblick statt Blackout» ist seit ĂŒber einem Jahr in den Bestellerlisten.