Das Evangelium von Jesus Christus erzählt Ereignisse der Vergangenheit. Zugleich will es die Gegenwart beeinflussen und die Zukunft mitgestalten. Die vier Evangelien schildern das Reden und Wirken eines Mannes, der das jüdische Gesetz deutet und es nach eigenen Angaben nicht auflösen, sondern erfüllen will. Mit seiner Botschaft stiess er einerseits auf Zustimmung, andererseits löste er Ärger und Feindseligkeiten aus. Die Vorstellung, er habe beim Volk gepunktet und nur die Elite gegen sich aufgebracht, wäre ein Klischee. Der römische Statthalter Pontius Pilatus fand keine Schuld an ihm, und die Volksbefragung bei der Verurteilung ergab den Ruf Kreuzige ihn! Die Kirche als seine Botschafterin fristete zunächst eine Randexistenz, ehe sie vom Staat legalisiert wurde und sich von der Macht beeinflussen liess.

Trotz aller Untreue gegenüber dem Auftrag fand die Christenheit zahlreiche Möglichkeiten, wie man die Botschaft Jesu zur Geltung bringt. Die Aufgabe des Über-Setzens und der Aktualisierung über den zeitlichen Graben hinweg geht weiter. Deshalb soll hier der Versuch gewagt werden, die Einstellung Jesu zu aktuellen Zeitfragen zu formulieren. Dafür gibt es Kriterien. Der Gottesglaube und die soziologische sowie zwischenmenschliche Haltung Jesu lassen sich auf die Gegenwart übertragen. Aber es bleibt auch Spielraum für Spekulationen.

Jesus würde dazu sagen: «Das mit dem Notfall ist ein Irrtum. Geht einfach mit den Ressourcen vernünftig um.»Der Name Jesus passt in die Reihe jener Namen, die die Buchreihen des Alten Testaments anführen: Josua, Jesaja und Hosea. Josua ist die hebräische Version von Jesus, und alle diese Namen bedeuten «Gott rettet». Genau so lautet auch das Leitmotiv des Juden- und des Christentums. Es knüpft an die Frage an, die jeden Menschen von Zeit zu Zeit beschäftigt: Wie kann ich dem Tod und dem Untergang entgehen? Zwar leben wir heute sicherer und länger als unsere Vorfahren vor 2000 oder vor 100 Jahren. Dennoch haben sich die Sorgen verdichtet. Oft wird das existenzielle Unbehagen auf äussere Umstände oder auf Feinde projiziert. Dann wird die Rettung zum irdischen und politischen Programm.

«Notfall ist ein Irrtum»

Es wird gesagt, der Klimawandel bedrohe den Planeten mitsamt allem Leben, folglich müsse alles getan werden, um die Erwärmung abzuwenden und den Planeten zu retten. Weil es sich um einen Notfall handle, dürfen die Entscheidungsträger die rechtsstaatlichen Hürden beseitigen. Jesus würde dazu sagen: «Das mit dem Notfall ist ein Irrtum. Geht einfach mit den Ressourcen vernünftig um. Denkt daran, dass alle Menschen zur Sünde neigen und dass grundsätzlich keiner mit der Macht umgehen kann. Das Risiko, dass die Klimarettung in eine brutale Diktatur umschlägt, ist viel zu hoch. Vertraut auf Gott, dass er die Erde erhält und euch die Weisheit für die nötigen Anpassungen verleiht.»

Was die Covid-Ansteckungen betrifft, handelt es sich um eine Krankheit. Jesus würde daran erinnern, dass er viele Kranke geheilt und damit deutlich gemacht hat, dass der menschliche Körper ein enormes Heilungspotenzial in sich trägt, und ausserdem sagen: «Krankheiten gehören zum Dasein. Sie sind Wettkämpfe um Lebensgrundlagen sowie Vorboten des Todes. Oft dienen sie dazu, den Körper zu stärken und auf spätere Attacken vorzubereiten. Der Anspruch, sich Krankheiten völlig vom Leib zu halten, ist lebensfremd und sektiererisch. Die Politik mit ihren Schutzmassnahmen fand vor drei Jahren Gegenliebe und Duldung, weil der moderne, verwöhnte Mensch Leidenserfahrungen scheut und daher auf ängstliche Übertreibungen anspricht.

Inzwischen zeigt sich, dass die Massnahmen vermutlich mehr Schaden angerichtet haben, als es die Infektionen getan hätten.» Jesus würde hinzufügen, «man hätte sich nicht fürchten müssen, und die Anschuldigungen gegen die Impfskeptiker waren ein Unrecht. Auch das Umgekehrte soll nun nicht geschehen, nämlich feindselige Retourkutschen gegen die Amtsstellen und Politiker. Wer sich geirrt hat, möge dazu stehen, denn Irren ist menschlich. Die Vergebung und einige Korrekturen an den Kompetenzordnungen können euch vor ähnlichen Entgleisungen in der Zukunft bewahren.»

Jesus hat die Leute so, wie sie waren, ernst genommen. Er würde sagen: «Trotz allen menschlichen Marotten und Macken geht es mir nicht darum, den herkömmlichen Menschen zu überwinden und einen neuen zu schaffen. Eine Erneuerung soll, wenn schon, durch die Gottesbeziehung geschehen. Der Versöhnung mit Gott und mit anderen Menschen gebührt der höchste Rang, aber die Versöhnung mit sich selbst gehört auch dazu. Nicht zufällig soll man den Nächsten lieben wie sich selbst.

Schlechtes Motiv

Die Klärung der eigenen Identität ist für manche Menschen irritierend und oft schmerzlich. Vor allem junge Menschen in der Entwicklungsphase brauchen dabei die einfühlsame Begleitung der Eltern und anderer Erwachsener. Dass ein junger Mensch mit seinem Wesen und mit seinem Geschlecht nicht zurechtkommt, ist kein Grund, seine Person umkrempeln zu wollen. Wer jungen Menschen – nicht zu reden von Kindern – einredet, sie könnten ihr Geschlecht selber wählen, stösst sie in ein schreckliches Dilemma und ins Verhängnis. Die völlige Loslösung von der Natur und von der Vorgeschichte ist ein liebloses Hirngespinst. Es scheint vorwiegend vom Hass auf die gegenwärtige Welt getrieben zu sein. Das wäre ein schlechtes Motiv.»

Zum Krieg in der Ukraine würde Jesus sagen: «Mein Volk, die Israeliten, musste sich während seiner langen Geschichte, die das Alte Testament erzählt, laufend mit Weltmächten herumschlagen: Ägypten, Assur, Babylonien Persien. Diese Weltmächte in ihrer damaligen Gestalt sind inzwischen mitsamt ihren Göttern verschwunden. Aber die Israeliten sind noch da. Damals sah es ganz anders aus: Die Israeliten fürchteten die Übergriffe der Grossmächte und suchten nach Möglichkeiten, sich durch Bündnisse vor ihnen zu schützen. Der Prophet Jesaja warnte den König Ahas von Juda vor solchen Militärbündnissen, weil sie das kleine Juda in Abhängigkeiten getrieben hätten.

Auf einen Angriff vorbereiten muss man sich schon, denn machtbesoffene Menschen sind unberechenbar.Auf einen Angriff vorbereiten muss man sich allerdings schon, denn machtbesoffene Menschen sind unberechenbar. Wie gesagt: Die Sünde lauert überall. Die Vorbereitung muss darin bestehen, dass man eine möglichst unabhängige Versorgung sicherstellt und sich so weit rüstet, dass man sich verteidigen kann. Deshalb habe ich damals den Jüngern, als ich sie aussandte, gesagt, sie sollen ein Schwert auf sich tragen – zur Verteidigung (Lukas 22). Ich, Jesus von Nazareth, bin für den Frieden, aber ich bin kein Pazifist. Das Schweigen der Waffen, wie etwa in Nordkorea, ist kein Friede. Es ist vielleicht Pax, aber nicht Schalom.

Pax heisst Verfestigung, Schalom bedeutet Ausgleich und Genugtuung. Es ist aufschlussreich und tragisch, dass die meisten Pazifisten, besonders in Deutschland, vierzig Jahre lang Frieden ohne Waffen forderten und dann diese Haltung nach dem Angriff Russlands gegen die Ukraine innert Tagen fallenliessen. Manche sind geradezu Militaristen geworden. Der Pazifismus mit seinen Illusionen über das menschliche Wesen hat dazu beigetragen, dass man nicht gerüstet war und die Grossmacht Russland freie Bahn sah.

Es gibt leider Länder, die auf Angriff und Raub angelegt sind. Sie wurden vom Propheten Jeremia mit Löwen verglichen (4, 7). Deshalb durfte ja Israel keine Grossmacht werden, sondern musste klein bleiben. Die Verteidigung der Ukraine ist legitim, muss aber verhältnismässig bleiben. Wenn ein Weltkrieg mit Millionen von Todesopfern und der Zerstörung grosser Lebensräume droht, ist der Friede ein höheres Gut als die Souveränität und Freiheit der Ukraine. Auch sollte man trotz aller Empörung mit der russischen Führung im Gespräch bleiben. Bricht der Kontakt vollends ab, verhärten sich die Fronten noch mehr. Militärbündnisse sind übrigens grundsätzlich problematisch, weil die Länder durch sie ein Stück Souveränität abtreten, meistens an den Mächtigsten des Bündnisses, der dadurch noch mächtiger wird.

Verhärtete Fronten können sich überall bilden, vor allem wenn die Menschen sich nicht als Individuen begegnen, sondern als blosse Bestandteile von irgendwelchen Kollektiven. Das beginnt schon bei der Fangemeinde eines Fussballklubs. Der Fussball ist ein sympathisches Freizeitvergnügen, aber sobald die Mannschaft oder der Klub zur Identität wird, geht der einzelne Mensch unter und grenzt sich gegen die anderen Klubs ab. Dann gibt’s ein Innen und ein Aussen, und der Einzelne verschwindet in der Masse. So bilden sich Feindschaften. Deshalb habe ich mich immer wieder Menschen zugewandt, die einer andern Gruppe angehörten und von denen, die sich für die Besten hielten, verachtet wurden: der Samaritanerin am Brunnen, mehreren Leprakranken, den Psychopathen und Neurotikern, den Verrückten, den Zöllnern, den Ehebrechern.

Gott tut das Wesentliche

Jeder Mensch hat von Gott seine Würde bekommen und ist viel mehr als ein Stücklein Gruppe. Die Begegnungen zwischen den Menschen brauchen Geduld und Zeit. Aber Zeit habt ihr ja genug, denn es ist nicht wahr, dass die Zeit drängt. Die Welt geht nicht unter. Für ihre Rettung und Erhaltung ist Gott zuständig. Immer wenn die Menschen sich selber dazu anschickten, kam es schlecht heraus, weil Irrtümer und Anmassungen auf die schiefe Bahn führten.

Und noch etwas: Ihr wisst, dass ich am Kreuz hingerichtet wurde. Das war extrem qualvoll, und ich betete sogar Worte des Psalms 22, weil ich mich von Gott völlig verlassen fühlte. Aber er erschien erneut und sorgte dafür, dass ich den Tod überwand. Die Auferstehung soll allen Menschen zuteilwerden. Und einen kleinen Abglanz davon erlebt ihr in eurem Alltag, wenn ihr trotz Verlusten, Misserfolgen und Niedergängen weiterlebt, neue Lebensfreude empfangt und neue Ufer erreicht. Es ist also nicht nötig, dass ihr euch krampfhaft und verbissen Sorgen macht und den Planeten oder auch nur eure Umgebung retten wollt. Gott tut das Wesentliche, und ich als sein leidenserfahrener und auferstandener Sohn wirke mit.»

Peter Ruch ist reformierter Pfarrer im Ruhestand und Kolumnist der Weltwoche.