Weltwoche: Herr Mosebach, wir wollen in die Tiefe gehen. Wie haben Sie Weihnachten als Kind wahrgenommen?

Martin Mosebach: Ich war ein grosser Weihnachtsfeierer. Die Erregung war stark, die Erwartung war ungeheuerlich. Und es war auch eine vollkommene Enttäuschungsresistenz da. Ich bestand eisern auf der genauen Einhaltung sämtlicher Weihnachtsrituale, die sich da bei uns zu Hause entwickelt hatten. Und es kamen eben immer Gäste zu uns zum Heiligabend. Es war also auch immer ein Fest, das über die Familie hinausging. Und es war für mich eigentlich der Inbegriff des Festes überhaupt.

Weltwoche: Also Sie waren wie jedes Kind konservativ. Kinder wollen ja, wenn ihnen eine Geschichte erzählt wird, diese immer haargenau so wieder erzählt haben, wie sie sie beim ersten Mal genossen haben.

Mosebach: So ist es. Wie war es bei Ihnen?

Weltwoche: Wir hatten auch sehr strenge Rituale. Als wir sehr klein waren, zu Hause, war es so, dass wir ein Krippenspiel veranstalteten vor dem mit Lametta und echten Kerzen geschmückten Baum. Ich habe noch vier Brüder. Jeweils das jüngste Kind lag dann in einem Wäschekorb, der die Krippe darstellte, und war das Jesuskind. Als mein jüngerer Bruder geboren wurde, musste ich, völlig geschockt, den Platz in der Krippe räumen, also die Hauptrolle abgeben und war nur noch als krabbelndes Schäfchen geduldet bei dem Krippenspiel. Als wir dann später im Skiurlaub in Tirol feierten, bei dem Bauern in Fiss, bestand mein Vater darauf, die Weihnachtsgeschichte nach Lukas im Stall vorzulesen. «Es begab sich also zu jener Zeit. . .», und der stoische Bauer, es war eine sehr volksfromme Familie, der hob seine Schaufel unter die kackenden Kühe, weil er wollte, dass auch die Kühe ein Mindestmass an Frömmigkeit und Anstand wahren. Gilbert Chesterton schreibt in seinem Weihnachtsgedicht, dass sie erst mal rausflogen aus der Welt und dann herumschweiften und suchten, bis sie dann ebendiese Krippe fanden. Also sie sind erst mal heimatlos, und dann kommen die Menschen zu ihnen.

Mosebach: So wie es im Johannes-Evangelium heisst: Er kam in sein Eigentum, und die Menschen haben ihn nicht begriffen. Er wird ja nach Bethlehem gebracht, weil die Familie aus Bethlehem stammt, und genau dort ist er dann heimatlos.

Weltwoche: Dann sind die Predigten, die man während der Flüchtlingskrise hörte, theologisch fehlerhaft, oder? Josef und Maria waren keine Flüchtlinge, sondern Heimkehrer.

Mosebach: Es ist schon wichtig, an welchem Ort er heimatlos ist, nämlich eigentlich in dem Ort, an dem er sein soll und in dem er sein muss. Ja, in der Stadt Davids, in der er sein muss, um sich registrieren zu lassen. Er kehrt dort ein, was sein Eigentum ist, und dort wird er nicht begriffen. Schon von Anfang an tut sich also diese Schere auf. Das Grossartige am ersten Weihnachtstag ist ja das Evangelium, eben der Johannes-Prolog. Und das ist meinem Gefühl nach ja das Allerwichtigste überhaupt von der ganzen Bibel. «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort» usw. «. . . und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.»

Weltwoche: Was mir auffällt in den Darstellungen von Maria und dem Kind, ist, dass in den östlichen Ikonen ein kleiner Erwachsener auf dem Arm der Jungfrau sitzt, also kein Kind, sondern der Soter, der Retter der Welt.

Mosebach: Die Ikonen malen die geistige und geistliche Wirklichkeit. Sie malen das, was eigentlich passiert ist. Und der Weltenherrscher muss dann wirklich der Pantokrator sein, und nicht das niedliche Baby.

Weltwoche: T. S. Eliot hat ein wunderbares Weihnachtsgedicht geschrieben, «The Custom of Christmas Trees». Da sagt er: «Weihnachten ist nicht kindisch (childish), sondern that of a child, kindlich.» Ein Fest der Kindlichkeit. Wir dürfen Kinder sein, wir müssen Kinder sein. Für ein Kind, sagt Eliot, ist die Kerze tatsächlich der Stern, und der goldene Engel, der die Spitze der Tanne ziert, kein Dekorationsobjekt, sondern tatsächlich ein Engel.

Mosebach: Es ist im höchsten Masse das Fest der Kindlichkeit. Denn im Zentrum steht eben die Menschwerdung Gottes, des Schöpfergottes, der die Gestalt des Geschöpfes annimmt, und zwar als Säugling. Das enthält keine Moral, das enthält keine Doktrin, das enthält keine Theologie, das ist ein Ereignis.

«Heute bin ich ein grosser Freund von bunten Kugeln, und mir kann es jetzt gar nicht genug glitzern.»

Weltwoche: Chesterton sagt das so: «Etwas ist geschehen. Und lesen wir die Geschichte richtig, ist seither vielleicht gar nichts mehr geschehen.»

Mosebach: Ja, so etwas ist eben nicht noch einmal geschehen. Und das ist tatsächlich dieses Wunder. Die Weltgeschichte beginnt mit der Katastrophe, der Vertreibung aus dem Paradies. Und dann, Zehntausende Jahre später, ereignet sich dann dieses Wunder. Und im Grunde möchte ich sagen: Wenn weiter gar nichts geschehen wäre, wenn die ganze ergreifende Lebensgeschichte Jesu mit all dem, was er dann gelehrt und gesagt hat, nicht stattgefunden hätte, dann wäre das Eigentliche schon geschehen in Gestalt dieser Menschwerdung Gottes.

Weltwoche: Was mir auffällt in der Adventszeit in den Gottesdiensten, ist, dass die Texte alle so eschatologisch sind, so endzeitlich, dass sie auf das Ende hingerichtet sind. Ja eigentlich auf die Wiederkehr, auf die Parusie.

Mosebach: Sie sind auf die Wiederkunft gerichtet.

Weltwoche: Wie sagt es Chesterton? Mittelpunkt des Weltgeschehens, und ein Mittelpunkt ist immer sehr klein. Im vierten Kapitel seiner «Orthodoxie» schreibt Chesterton über die Welt der Wunder und der Feen, die wichtiger und vernünftiger ist als das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. «Engel», sagt er, «können fliegen, weil sie sich nicht zu schwer nehmen.» Chesterton, ein grosser Journalist und Trinker und Feinschmecker, war vernarrt in Paradoxe.

Mosebach: Er hatte eben dieses Vertrauen darauf, dass aus den Wörtern, wenn man mit ihnen spielt und wenn man sie plötzlich in ihr Gegenteil verkehrt, eben eine neuartige Wahrheit rauskommen kann. Man möchte sagen, er lässt die Sprache selber machen. Er gibt der Sprache nicht Gedanken vor, sondern er lässt die Gedanken aus der Sprache herauspurzeln.

Weltwoche: Und sie purzeln wie ein Wasserfall in der wunderbarsten Form. Sie haben in Ihrem Short-Story-Buch «Stillleben mit wildem Tier» eine ganz wunderbare Weihnachtsgeschichte geschrieben. Sie spielt in Neapel bei dem Ehepaar Esposito.

Mosebach: So heissen die Hälfte der Neapolitaner.

Weltwoche: Und die feiern wahrscheinlich alle auch Weihnachten und Christmas.

Mosebach: Ja, Neapel ist eine grosse Weihnachtsstadt. Da gibt es eben diesen Brauch mit den Krippen, die eben nicht nur die heilige Familie darstellen, die dann meistens in einer Korkruine sitzt, sondern drum herum bei exzessiven Verhältnissen womöglich Hunderte von Figuren, alle erdenklichen Handwerker, Wirtshäuser, der Schuster, der Bäcker . . .

Weltwoche: . . . und der Metzger.

Mosebach: . . . der Metzger, Fandango, Tänzer und Tänzerinnen und Bettler und Schausteller. Und es ist eine solche Flut von Gestalten, dass die heilige Familie fast genauso darin untergeht, wie sie vermutlich tatsächlich vor 2000 Jahren eben als arme kleine Familie in einer Höhle sitzend auch untergegangen ist in der Menge von Leuten, die gar nicht mitbekommen haben, was da Aussergewöhnliches passierte.

«Man muss einfach in dieser Eiseskälte draussen sein und sich einen hinter die Binde giessen.»

Weltwoche: Und in Ihrer Geschichte nun hat die Familie Esposito eine Vierzimmerwohnung mit den drei Söhnen. Über Weihnachten ist dann das vierte Zimmer reserviert für eine riesige Krippenlandschaft. Es gibt dann auch ein Mäuschen. Verirrt sich in diese Krippenwelt, das Mäuslein. Und dann kommt, wie durch Geisterhand von aussen aufs Fensterbrett gehoben, eine Katze. Auf der Jagd nach der Maus werden die kleinen Krippenfiguren durcheinandergewirbelt, die Katze verwandelt diese Stadt in ein Schlachtfeld, und es fliesst Blut. Dann der delikate Schlusssatz: «Und bei dem Metzger fängt sich ein winziges Tröpfchen Blut.» Also ja, die Idylle wird durch eine plötzliche Grausamkeit aufgerührt.

Mosebach: Ich meine, dieses habe ich nicht erlebt, aber mir vorzustellen, dass in eine solche stille Krippenwelt plötzlich ein wildes Tier einbricht und damit letztlich auch zeigt, in welche Welt Jesus hineingeboren wurde. Denn die Gewalt kommt ja sehr bald bei Herodes. Da wird dann dieses Krippenwesen geradezu lebensfeindlich, weil die kleinen Krippenfiguren viel mehr Raum beanspruchen, als die Menschen noch beanspruchen können. Das hat ja auch eine groteske Seite. Aber die Krippe ist eben im Süden wichtiger gewesen als der Weihnachtsbaum.

Weltwoche: Der hat eine andere Tradition. Wohl eine deutsche. Albert, der Ehemann von Queen Victoria, hat ihn in England eingeführt, samt Weihnachtsgebäck und allem.

Mosebach: Der Weihnachtsbaum ist modern, nur 200 Jahre alt, heidnisch, nordisch, und jetzt allerdings auch in Rom und Neapel präsent, denn die Menschen lieben es ja, einander zu imitieren. Und jetzt ist also Weihnachten mit dieser nordischen Weihnachtsatmosphäre des Santa Claus und den beschneiten Elchen usw. verbunden, auch im Süden leider, wie man sagen muss, wo eben früher diese Erinnerung an das eigentliche Ereignis doch also wirklich zentral war.

Weltwoche: Noch mal Chesterton. Über all das Krippengewimmel hat er geschrieben: «Gott war ein Ausgestossener und hatte sich den Hirten in einer Höhle gezeigt, nicht an einer Akademie. So entstand das Christentum als Religion der kleinen Dinge und der kleinen Leute. Genau so musste es kommen, denn Gott ist der Mittelpunkt aller Welt. Und ein Mittelpunkt ist unendlich klein.»

Mosebach: Zu diesem Gejammer über das materialistische Weihnachtsfest, das alles kann man ja auch mal von einer anderen Seite betrachten, nämlich, dass Leute, die vielleicht die Verbindung mit der Religion schon ziemlich weitgehend verloren haben, dass diese an Weihnachten plötzlich das Gefühl haben, in eine wilde Verschwendung einzutreten. Und ein bisschen von dieser Freude ist eben selbst in der Suff-Atmosphäre von so einem Weihnachtsmarkt mit dem grässlichen Glühwein eben letztlich doch zu erahnen. Man muss einfach in dieser Eiseskälte draussen sein und sich einen hinter die Binde giessen. Es gibt so eine innere Stimme, die sagt: «Das ist jetzt ein Freudenfest.»

Weltwoche: Im Hamburger Dom habe ich erlebt, wie dann auch die Trinker und die Obdachlosen in den Dom strömen und sich dann bescheiden hinten aufbauen mit ihren Plastiktüten, angezogen durch das Licht und die Wärme, durch die feierliche Atmosphäre und den Baum. Und all das ist ja eigentlich was sehr Schönes. Und viele Kinder natürlich. Der Heilige Abend ist dann doch der Abend der Geschenke.

Mosebach: Es ist so eine erste Ahnung von einer Überwirklichkeit, wenn die Tür aufgeht, und da steht dieser Baum wie ein Ereignis, wie ein Ding aus dem All, das da gelandet ist. Plötzlich in dem bürgerlichen Wohnzimmer steht dieser Lichterbaum. Beinahe was Surreales. Also das ist eigentlich das Allerschönste, wenn man dann ein Kind sieht.

Weltwoche: Das Glöckchen wird geklingelt, und dann schieben sich die Kinder aus dem dunklen Flur nach vorne. Wie war Ihr Weihnachtsbaum geschmückt? Haben Sie Stroh oder Lametta bevorzugt?

Mosebach: Nein, die Eltern waren sehr geschmackvoll. Und da galt Lametta als was gänzlich Unmögliches. Das sollte also dann selbstgebasteltes Zeug sein. Diese schiefen Goldsterne, die wir dann mit Müh und Not eben vor Weihnachten zusammengeschmiert hatten, und entsprechende Strohsterne, die auch nicht sehr eindrucksvoll waren. Das musste aber unbedingt alles eben selbstgebacken sein, sonst wäre es frivol gewesen . . . (lacht). Also heute bin ich ein grosser Freund von bunten Kugeln, und mir kann es jetzt gar nicht genug glitzern.

Weltwoche: Ich habe ja auch Weihnachten in New York erlebt, und da gibt es bei Macy’s im Schaufenster die grosse Krippe, eine Stadtlandschaft mit Lok, die da aufgebaut ist, und die Kleinen drücken sich dann die Näschen platt an der Schaufensterscheibe. Und ich mochte dann doch Sinatra und Elvis mit ihren Weihnachtsliedern, Boney M. mit «Mary’s Boy Child». Aber dieses Geträller nimmt ja dann doch auch vom Geheimnis was weg. Und Weihnachten ist doch, wenn überhaupt irgendwas, dann auch ein grosses Geheimnis, oder?

Mosebach: Ja, natürlich, dieses Ereignis ist anders als als Geheimnis gar nicht zu fassen. Und das Erstaunliche ist, dass die Hirten die Engel gesehen haben, denen hat sich sofort mitgeteilt, dass da ein Wunder geschehen war, obwohl es ja nichts anderes war, als dass ein sehr junges Mädchen gerade ein Kind gekriegt hatte unter improvisierten Umständen. Es ist ja interessant, dass die Magier, die danach kommen, die Intellektuellen, keine Engel gesehen haben. Die haben den Stern gesehen und wurden durch die Wissenschaft dorthin geführt.

«Das enthält keine Moral, das enthält keine Doktrin, das enthält keine Theologie, das ist ein Ereignis.»

Weltwoche: Das soll der Halley-Komet gewesen sein.

Mosebach: Nein, es ist, glaube ich, ein Zusammentreffen von mehreren Planeten an einer Stelle, die dort übereinanderstehen oder hintereinander und dadurch eben ganz besonders hell wirken. Man hat so ein stellares Event um diese Zeit gefunden, ich glaube, sieben vor Christus, tatsächlich.

Weltwoche: Also, die Wissenschaftler brechen auf. Wem vertrauen sie eigentlich in dem Moment? Ihren eigenen Horoskopen, ihren Aufzeichnungen? Oder sind sie angerührt von irgendwas?

Mosebach: Diese Wissenschaftler sind natürlich auch Priester gewesen von orientalischen Religionen, und ihre genauen Berechnungen der Sterne, die waren nicht im heutigen Sinne rationalistische Wissenschaft, sondern immer auch göttliche Botschaft. Ja, als solches haben sie gesehen, da ist etwas Ausserordentliches passiert.

Weltwoche: Und auch die kamen bepackt mit Geschenken.

Mosebach: Mit Geschenken, auch wenn diese rituellen Geschenke, die da geschildert werden, Zitate aus dem Alten Bund sind und einfach zeigen, dass es Geschenke sind, die für die Geburt eines Königs passend waren.

Weltwoche: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Mosebach: Sehr bedeutungsvolle Gaben, die natürlich die hohe Würde des eben Geborenen symbolisieren.

Weltwoche: Einige behaupten, das Ereignis fand im Sommer statt, andere, es sei aus der heidnischen Sonnenwende abgeleitet.

Mosebach: Da gibt es die verschiedensten Vorstellungen. Aber es gibt eine, die noch nicht so lange im Bewusstsein ist, aber natürlich uraltes Wissen verbirgt, die jetzt eben wieder ausgesprochen worden ist. Eine Deutung, der sich übrigens auch Papst Benedikt angeschlossen hat. Die besagt, dass sich der Weihnachtstermin, der 25. Dezember, ergibt aus dem neunmonatigen Abstand zum 25. März, und der 25. März ist das Fest von Mariä Verkündigung, der Empfängnis, wo tatsächlich das Wort Fleisch wird und die Befruchtung stattfindet. Dieser Tag gilt in einer alten jüdischen, einer vorchristlichen Tradition, als Tag der Erschaffung der Welt.

Weltwoche: Dann ist das also tatsächlich akkurat, die Geburt Christi an dem Tag zu feiern?

Mosebach: Ich finde das grossartig: der Welt-Schöpfungstag. Und seitdem ich das weiss, da denke ich wirklich am 25. März daran. Also heute wurde die Welt geschaffen, und das ist auch ein sehr seltsames Gefühl, sich das so konkret vorzustellen.

Weltwoche: Wie werden Sie dieses Jahr Weihnachten feiern?

Mosebach: Wie jedes Jahr mit der grossen Familie, schön mit allem Drum und Dran. Um 24 Uhr marschiert dann die gesamte Corona in den Mitternachtsgottesdienst, also nicht um sechs und nicht um neun. Sondern richtig um 00:00 Uhr.

Weltwoche: Ich wünsche Ihnen ein wundervolles Weihnachtsfest, und ich bedanke mich für diese angeregte Unterhaltung.

Mosebach: Danke, Herr Matussek.