Möchtest du ficken?», fragt mich ein Mann in einer Nachricht auf Tiktok. Seinem Bild nach zu urteilen, dürfte er um die sechzig sein; dabei dachte ich immer, dass ich mit meinen 35 Jahren schon zur älteren Generation auf der Plattform gehöre.

Nun könnte man ihm zugutehalten, dass er wenigstens höflich gefragt hat. Andere bieten sich, ganz ohne zu fragen, selbstlos für ein Kennenlernen an. Manchmal mit dem Alibizusatz «wenn ich nicht schon verheiratet wäre», um erst einmal auszutesten, wie die Chancen stehen. So kann man sich wenigstens mit einem «War doch nur Spass» herausreden, wenn es nicht klappt. Der Letzte, der so sei sein Glück bei mir versuchte, war übrigens 62. Wenn man die Männer auf den deutlichen Altersunterschied hinweist, kommen charmante Kommentare, die feststellen, dass man selbst auch nicht mehr die Jüngste sei.

Wissen Sie, ich bin, das kann ich rückblickend sagen, in einer heilen Welt aufgewachsen. Mein Vater war ein toller Mann. Vermutlich der Beste, den ich je kennenlernen durfte. Und wahrscheinlich liegt genau darin das Problem. Denn dieser Mann, der Frauen stets mit Respekt behandelt hat und meine Mutter bis zu seinem Tod aufrichtig geliebt hat, hat mein Männerbild geprägt.

Umso härter ist der Aufprall, wenn man als Frau irgendwann realisiert, wie nicht wenige Männer ticken. Wer wie ich mit einer einigermassen grossen Reichweite in den sozialen Medien unterwegs ist, bekommt wie unter einem Brennglas veranschaulicht, wie es um den Respekt für Frauen tatsächlich bestellt ist.

Am Ende geht es immer auch darum, Macht durch Degradierung auszuüben.

Nun könnte man allerhand Ausreden und Erklärungen finden, warum Männer sich so verhalten. Da wäre das Argument der Anonymität im Netz, das nicht wirklich eines ist, weil der Grossteil der Männer, die sich so aufführen, mit Profilbild und Klarnamen alles dafür tun, dass man in fünf Sekunden ihre Wohnanschrift herausfinden könnte. Oder das Argument, dass das Netz Hemmungen abbaut, weil man dem anderen nicht direkt gegenübersteht, wobei ich der Meinung bin, dass ein Mensch, der eine Erziehung genossen hat, diese auch im Netz anwendet.

Insbesondere die ältere Generation neigt dazu, die virtuelle Welt der sozialen Medien immer noch strikt von der Realität zu trennen und dies dann als Erklärung für Fehlverhalten anzuführen. Aber hat diese Trennung für die meisten von uns, deren Internetaktivität über das Teilen von Katzenbildern hinausgeht, wirklich Bestand? Reden wir im Netz nicht mit realen Menschen? Diskutieren wir nicht über wirkliche politische Themen und unseren Alltag?

Das nächste Argument besagt, dass Menschen, die sich öffentlich im Netz äussern, mit solchen Reaktionen rechnen müssten. Das ist richtig – solange sie inhaltlicher Natur sind. Wer sich öffentlich äussert, auch und gerade zu politischen Themen, muss jedoch davon ausgehen, dass es Menschen gibt, die diesbezüglich eine andere Ansicht vertreten. Nicht zur inhaltlichen Kritik gehört etwa Uwes Meinung zu meinen langen Fingernägeln. Genauso wie die übergriffigen Anmachversuche von Bernd. Öffentlichkeit ist keine Einladung und keine Rechtfertigung für andere Menschen zur Beleidigung oder gar sexuellen Belästigung.

Grundsätzlich bin ich nicht der Meinung, dass dieses Verhalten einem Werteverfall entspringt. Meines Erachtens gab es schon immer Menschen, die nicht wissen, was sich gehört. Zumal sich dieses Phänomen in allen gesellschaftlichen Schichten zeigt und ein Bauarbeiter nicht übergriffiger agiert als ein Manager. Wahrscheinlicher erscheint mir, dass die leichte Vernetzung mit jedem über das Internet solche Leute einfach nur sichtbarer gemacht hat.

Mein Vater wäre jedenfalls nie jungen Frauen im Netz nachgestiegen, und auch jetzt ist es nicht die Mehrheit, die sich so aufführt, aber doch ein signifikanter Teil, der eine grosse Mitverantwortung dafür trägt, dass sich Frauen, mehr noch als Männer, sehr genau überlegen, ob sie sich öffentlich mit ihrer Meinung exponieren.

Am Ende geht es immer auch darum, Macht durch Degradierung auszuüben. Das ist natürlich alles nicht vergleichbar mit jemandem, der seine Frau schlägt, sie unter das Kopftuch zwingt oder vergewaltigt, aber man muss das eine nicht mit dem anderen relativieren. Was fehlt, ist der Anstand.