Moskau, Bar des Hotels «Kempinski», 12. März 1998: Rudolf Seiters, der für Aussenpolitik zuständige stellvertretende Fraktionschef der CDU/CSU und Kanzler-Vertrauter, ist mit einer Gruppe junger Unionsabgeordneter, darunter Peter Altmaier, Armin Laschet, Hermann Gröhe, Eckart von Klaeden und ich, zu politischen Gesprächen in Moskau. Wir kommen von einem Termin bei Aussenminister Jewgeni Primakow, den Helmut Kohl uns besorgt hatte, und sitzen nun für einen Absacker in der Bar des Hotels «Kempinski». Blick durch die Fenster auf den hell erleuchteten Kreml – aber wir haben am heutigen Abend nur ein Thema: Mit wem soll die Union in den nächsten Bundestagswahlkampf im Herbst?

Helmut Kohl hat bereits erklärt, dass er es «noch einmal wissen will», aber keiner von uns (mit Ausnahme von Rudolf Seiters) glaubt, dass er eine Chance gegen Gerhard Schröder haben wird. Andererseits: Keiner von uns will einen Putsch gegen den Kanzler, er hat enorme Verdienste um das Land. So erklärt jeder, dass es nur mit, nicht gegen Kohl gehe. Er müsse überzeugt werden – allerdings erst nach der Entscheidung des Europäischen Rates über die Euro-Einführung am 3. Mai –, Schäuble vorzuschlagen. Die meisten wollen eine «Doppelspitze»: Kohl zieht als Kanzler der Einheit durch das Land, Schäuble tritt als Erneuerer und Reformer für die Zeit nach der Wahl an. Wir bitten Rudolf Seiters, den Gesprächsinhalt dieser Runde dem Kanzler zu übermitteln.

 

Schäuble-Salons

Helmut Kohl wurde von Seiters informiert – und zeigte wenig später, was er davon hielt. Am 24. April 1998, dem Freitag vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, erschien auf Seite eins der Bild-Zeitung ein Artikel: «Putsch gegen Kohl in Moskau». Darunter Fotos von Peter Altmaier, Hermann Gröhe und mir. Natürlich war der Artikel aus dem Kohl-Lager lanciert worden. Kein Wort davon, dass wir eine einvernehmliche -Lösung mit Kohl anstrebten. Kurz vor der Landtagswahl mussten wir sofort dementieren und öffentlich unsere Loyalität zum Kanzler bekunden. Der einvernehmliche Stabwechsel war gescheitert. Kohl hatte die Sache «mit links» beerdigt.

Für mich steht ausser Frage, dass es damals eine grosse Mehrheit in -Fraktion und Partei gab, die Schäuble als Kanzlerkandidaten wollte. Er war das unumstrittene inhaltliche und strategische Schwergewicht der Union: erfahren, kompetent, integer. Kohl war bereits sechzehn Jahre Kanzler. Volk und Partei sehnten sich nach einem neuen Gesicht. Gleichzeitig aber waren alle – einschliesslich Schäuble – wirklich im Innersten loyal, man wollte «den Alten» nicht davonjagen, wie es die SPD 1987 mit Willy Brandt getan hatte.

Hätte Schäuble das entsprechende Signal gegeben – er wäre Kanzlerkandidat und wahrscheinlich Kanzler geworden. Es gab nämlich 1998 keine allgemeine Wechselstimmung, nur eine Kanzler-Wechselstimmung. Aber für Schäuble spielten Loyalität, Einordnung in die Gemeinschaft, Zurückstellung der eigenen Interessen gegenüber denen von Land und Partei immer eine überragende Rolle. Ein badischer Protestant durch und durch. Fleiss, Pflichtbewusstsein, Anstand und Verlässlichkeit spielten in seinem Leben dementsprechend eine entscheidende Rolle.

Gleichzeitig war er stets neugierig, belesen, tauschte in langweiligen Parlamentssitzungen mit seinen neben ihm sitzenden Kollegen flüsternd Lesetipps aus. Von Zeit zu Zeit lud er zu kleinen Abendrunden in die parlamentarische Gesellschaft, eine Art Schäuble-Salon. Da kamen dann Wissenschaftler, Intellektuelle und Journalisten. Schäuble wollte immer dazulernen und lebte in solchen Runden regelrecht auf.

Er ist nie Kanzler geworden, so what? Er brauchte das Amt gar nicht, denn er hat mit seiner Persönlichkeit Deutschland über Jahrzehnte geprägt wie kaum ein anderer.

 

Friedbert Pflüger war CDU--Bundestagsabgeordneter, aussenpolitischer Sprecher der Union und -parlamentarischer Staatssekretär der Regierung -Merkel. Heute ist er Geschäftsführer der Denkfabrik Clean Energy Forum (CEF).