Wozu sind Intellektuelle da? Ihre geistige Beweglichkeit erlaubt vieles: Sie können der Macht und den Mächtigen widersprechen, ihnen den Spiegel vorhalten, oder sie können ihnen die Stichworte liefern und sie in ihrem Kurs bestätigen: Stachel im Fleisch oder anstacheln. Als der Schriftsteller Martin Walser 1998 in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, entschied er sich für die erste Variante: Er stiess die versammelte Corona aus Politik, Wirtschaft und Kultur vor den Kopf, indem er ihre ritualisierte Vergangenheitsbewältigung entlarvte. Die jüngste Preisträgerin, die amerikanisch-polnische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, griff am Sonntag am selben geschichtsträchtigen Ort zu Option zwei: Ihre Rede liest sich wie Bestätigungsprosa der Ampelregierung in der Ukraine-Frage. Wenn Applebaum so etwas wie das role model des Mainstreams darstellt, dann ist ihre Frankfurter Dankesrede das diese Rolle bestätigende und festigende Meisterstück.

Um fair zu bleiben: Applebaum ist mir als Historikerin in Erinnerung, die erschütternde Bücher über den sowjetischen Gulag und Stalins Holodomor (Mord durch Hunger) zu Beginn der 1930er Jahre in der Ukraine geschrieben hat. Sie versteht also etwas von ihrem Fach, sie kennt den Schauplatz, auf dem erneut ein blutiger Krieg tobt. «Bloodlands» nennt ihr Historikerkollege Timothy Snyder die leidgeprüfte Gegend.

 

Bodentruppen bis Wladiwostok?

Doch Applebaum hat längst jede wissenschaftliche Zurückhaltung abgelegt, sowohl was die Ukraine als auch was den amerikanischen Wahlkampf anbelangt. Putin, Stalin, Trump, Hitler, Mussolini nennt sie in einem Atemzug. Vergleiche können ein geschichtswissenschaftliches Erkenntnismittel sein, klar, aber Gleichsetzungen sind schwierig. Applebaum – ist es eine Form von déformation professionelle? – sieht die totalitäre Epoche des 20. Jahrhunderts wieder auftauchen. «Keine Historikerin einer Tragödie möchte den Fernseher einschalten und sehen, dass ihre Arbeit zum Leben erweckt wurde», sagte sie in Frankfurt. Sie habe nicht geahnt, «dass sich diese Geschichte zu meinen Lebzeiten wiederholen könnte oder würde».

Dabei bedient sie sich wahlweise beider Jahrhundertdiktatoren, einmal Stalins, einmal Hitlers, um ihrem Abscheu gegen die Russen freien Lauf zu lassen («genau, wie es die Nationalsozialisten in Polen getan hatten»). Auch Mussolini kommt zu Ehren, wenn sie den «Aufbau eines totalitären Regimes» in Russland heraufbeschwört («Alles im Staate, nichts ausserhalb des Staates, nichts gegen den Staat»).

Und so geht es weiter: Seit der Besetzung der Krim 2014 sei Russland von «derselben Militarisierung und Kriegsbegeisterung erfasst» worden wie Deutschland in den 1930er Jahren. Man fragt sich: War Applebaum seither in Russland? Hat Putin je wie ein Goebbels den «totalen Krieg» gefordert, und hat ihm die Menge tosend, taumelnd zugejubelt wie damals jene im Berliner Sportpalast? Mein Eindruck auf Russlandreisen war ein anderer: Die Menschen, die Bürger wollten diesen Krieg nicht, und sie wollen ihn auch heute nicht; von einer «Kriegsbegeisterung» wie in Deutschland vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg kann keine Rede sein – es sei denn, in einer Frankfurter Friedenspreisrede.

Für Applebaum stehen wir heute «vor der grössten Herausforderung für unsere Werte und Interessen zu unseren Lebzeiten». Viele wünschten sich, der Krieg möge «auf magische Weise enden». Aber müssen es gleich Zauberkünste sein? Es würde schon helfen, ernsthafte Verhandlungen in Betracht zu ziehen und nicht einseitige Shows in Gelb-Blau à la Bürgenstock zu veranstalten. Die Forderung nach Frieden ist für die Friedenspreisträgerin Applebaum «nicht immer ein moralisches Argument». Natürlich, sie kann auch den Status quo zementieren, dem Stärkeren, dem Aggressor dienen. Doch mit diesem Totschlagargument lässt sich jede Friedensinitiative im Keim ersticken.

Applebaum tut genau das, und sie weiss, dass sie damit ihr deutsches Publikum am historischen Schmerzpunkt abholt. Die Lektion der deutschen Geschichte könne nicht sein, «dass die Deutschen Pazifisten sein müssen. Im Gegenteil: Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.» Applebaum wird noch deutlicher: Wer Pazifismus fordere «und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt». Sie wagt gar die Aussage: «Hätten Deutschland und die übrigen Nato-Staaten die Ukraine im Vorfeld mit Waffen unterstützt, dann hätten sie eine Invasion vielleicht verhindern können.»

Auf die Kritik folgt der Schmus: «Schon früher bedrohten aggressive Diktaturen die freiheitlichen Gesellschaften Europas. Schon früher haben wir gegen sie gekämpft. Und diesmal ist Deutschland eine der freiheitlichen Gesellschaften und kann den Kampf mit anführen.» Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Paulskirchen-Gemeinde bei diesem Satz in kollektives Kopfnicken verfiel. «Der Rest der demokratischen Welt braucht Sie», appellierte Applebaum an die Anwesenden.

Es war eine Captatio Benevolentiae, ein Haschen nach dem Wohlwollen des Publikums, mit dem die schlaue Rednerin zur finalen Botschaft ansetzte: «Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen, und zwar nicht nur für die Ukraine. Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so, wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen.»

Der Historikerin Applebaum muss man nicht beibringen, wie der von Hitler entfachte Zweite Weltkrieg endete, auf den sie hier anspielt: mit der Vernichtung des Dritten Reichs, mit dessen totaler Kapitulation in Schutt und Asche. Wie stellt sich die Friedenspreisträgerin dies vor? Mit Atombomben auf Moskau und St. Petersburg? Mit Rheinmetall-Panzern auf dem Roten Platz? Mit Bodentruppen bis Wladiwostok?

 

Hitler, Stalin, Mussolini

Eine ähnliche Rhetorik verwendet die Harris-Supporterin auch im amerikanischen Wahlkampf: Trump spreche «wie Hitler, Stalin und Mussolini», schrieb Applebaum im Atlantic. Einer reicht wohl nicht mehr. Und als der republikanische Senator Tom Cotton bereits im Februar 2020 die Vermutung äusserte, dass das Coronavirus einem Labor in Wuhan entsprungen sein könnte, twitterte sie: «Wow. Gerade wie die Sowjetpropagandisten, die die Welt zu überzeugen versuchten, dass die CIA Aids erfunden hat.»

Könnte es sein, dass hier eine verdiente Forscherin mit ihren rhetorischen Keulen aus dem Giftschrank der Geschichte eigenhändig ihren Ruf als unabhängige Instanz beschädigt? Es passt jedenfalls ins Bild, dass Applebaum vom Global Disinformation Index (GDI) (s. Artikel nebenan), der von der US- wie von der deutschen Bundesregierung Kampagnenaufträge gegen unliebsame politische Gegner und regierungskritische Medien entgegennahm, als «Beraterin» aufgeführt wurde. Als das Magazin Reason sie darauf ansprach, liess sie ihren Namen von der Website löschen und beteuerte, seit der Finanzierungsphase nicht mehr in Kontakt mit dem GDI gestanden zu sein.

Einig dürfte sie hingegen in der Beurteilung der Weltlage mit ihrem Ehemann gehen, dem polnischen Aussenminister Radoslaw Sikorksi, der am 27. September 2022, einen Tag nach dem Anschlag auf die Gaspipeline Nord Stream, zu einem Bild der Explosionsspuren an der Ostsee-Oberfläche twitterte: «Thank you, USA.»