Johann Wolfgang Goethe: Faust (Hamburger Ausgabe). C.H. Beck. 777 S., Fr. 28.90
Es hätte Hermann sein sollen. Heroisch wie bei Johann Elias Schlegel, tugendhaft wie bei Klopstock, verschlagen wie bei Kleist, bot sich der Cheruskerfürst als Held einer Nation an, die sich kriegerisch gegen Frankreich, gegen Rom, gegen den Westen konstituieren wollte. Dass es für Hermann trotz des geballten dichterischen Bemühens schliesslich nur zum Denkmal reichte und stattdessen ein zwielichtiger Geselle wie der Doktor Faust zum literarischen Nationalhelden avancierte, das hatte der Verfasser des «Faust»-Dramas selber am wenigsten erwartet.
Und er hätte es sich schwerlich gewünscht. Nicht nur, weil ihm die deutsche Bildungswelt mit zunehmendem Alter so suspekt war wie umgekehrt auch er ihr («Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht!»), sondern auch, weil ja niemand so nachdrücklich den Anbruch einer neuen «Weltliteratur» proklamierte wie er. Dass «National-Literatur jetzt nicht viel heissen» könne, erklärte er 1827 just in dem Moment, in dem sie sich mit nationalistischer Vehemenz neu aufstellte – unter anderem mit diversen Hermanns-Dramen, von denen Kleist 1808 das blutigste geschrieben hatte.
Das ganze, zweiteilige Weltgedicht vom Faust, das der alte Goethe feierlich der Nachwelt überantwortete, zeigt das Gegenteil eines Nationalhelden. Der Titelheld ist weder ein Held, noch ist er national. Man übertreibt nicht, wenn man ihn einen Versager nennt, und zwar von Anfang an und auf ganzer Linie. Dabei allerdings – aus diesem «allerdings» ergibt sich ein erheblicher Teil des dramatischen Vergnügens – scheint ihm zunächst jedes Mal das zu gelingen, was er sich vornimmt. Wirklich kann der alternde, melancholische und suizidgefährdete Gelehrte mithilfe des Teufels und seiner dienstwilligen Hexen noch einmal als junger und abenteuerlustiger Mann in die Welt ziehen.
Dass er alsbald die zauberhafteste Frau trifft, die er sich nur hätte erträumen können, ergibt sich ganz ohne Teufelszauber. Sobald er aber mit der Unterstützung des Teufels die Begehrte ins Bett gelockt hat und sich am Ziel seiner Wünsche wähnt, wird aus der Liebes- eine Mordgeschichte; im obszönen Karneval der Walpurgisnacht gewinnt sie zeitweise die Züge eines Horrorspektakels.
So haben am Ende des ersten Teils, kaum hat Faust sich’s versehen, alle ausser ihm selbst das Leben verloren: Die Mutter stirbt am überdosierten Schlafmittel, das doch bloss eine unbewachte Liebesnacht ermöglichen sollte, das ungewollte Kind an der Verzweiflungstat der ledigen Mutter, der Bruder, der die Ehre der Schwester verteidigen wollte, von Fausts Hand im Duell, schliesslich wird die Geliebte um der Kindstötung willen hingerichtet. Dass Faust angesichts dieser Blutspur seines Begehrens abermals verzweifelt, hilft niemandem mehr. So lässt er sich vom teuflischen Mitspieler bereitwillig zu neuen Abenteuern locken. Doch wohin er auch gelangt – stets pflastern am Ende Leichen seinen Weg. Faust lernt nicht aus seinen Fehlern, er wiederholt sie nur in immer grösseren Dimensionen.
Am Kaiserhof, denn mit dem zweiten Teil führt das Drama aus der intimen in die politisch-öffentliche Sphäre, steigt er als Finanzdienstleister und nebenbei als Showman der Hofgesellschaft so steil auf und stürzt so steil ab wie der «Wolf of Wall Street». Als Militärberater im undurchschaubaren Kriegsgeschehen, als Immobilienhai, der auf Land baut, das er erst dem Meer abgewinnen muss, endlich als Inbegriff eines neuen Unternehmertypus, der mit Hilfe tyrannisch ausgebeuteter Arbeiterheere eine monströse Naturzerstörung ins Werk setzt und dabei selbst das Rentner-Ehepaar blutig aus dem Weg räumen lässt, das seinen Allmachtsträumen zuletzt noch im Weg stand: In allen Bereichen des Weltlebens wird der mörderische Verführer des ersten Teils nun zum Menschenschinder, Natur- und Selbstzerstörer im ganz grossen Stil. Während er im Grössenwahn die äusserste Erfüllung seiner Träume gekommen glaubt, schaufeln seine vermeintlichen Helfer ihm schon das Grab, aus dem (wie aus der in der Stofftradition an dieser Stelle fest vorgesehenen Höllenfahrt) ihn allein die unerforschliche Gnade Gottes zu retten vermag.
Und doch ist diese Schreckensbilanz nur die halbe Wahrheit. So schauerlich die Erfüllung von Fausts Wunschträumen anmutet, so wunderbar waren diese doch. Die wiedergewonnene Jugend und Schönheit, die hingebungsvolle Liebe, die Erkenntnisgewinne einer mündig gewordenen Vernunft, die schlaue Finanzpolitik und die Entdeckungsreisen durch Zeiten, Räume und Kulturen, schliesslich die Zukunftsvision eines mit eigener Kraft der Natur abgerungenen, von allen feudalen Fesseln freien Grundes, auf dem ein freier Mensch inmitten eines freien Volkes leben könnte – es sind die Träume ganzer Zeitalter, die Faust auf Goethes Wunderbühne stellvertretend ausagiert.
Dass sich dabei immer wieder nichts als so verheerend für den Traum erweist wie seine Erfüllung und dass von aller Magie am Ende nur der faule Zauber bleibt, das weist auf die unheimlichste Beziehung hin, die Faust mit seinem teuflischen Begleiter verbindet. Wenn Mephisto sich als einen Teil jener Kraft vorstellt, die «stets das Böse will und stets das Gute schafft», so ist Faust der Mensch, der immer von neuem Gutes will und immer nur Böses erzeugt.
Faust ist die dramatische Verkörperung einer Ambivalenz, die nur in transzendenter Perspektive auflösbar scheint. Ein Menschheitsgedicht ist Goethes «Faust» lebenslang, ein buchstäblich von der Kindheit bis ins Greisenalter erarbeitetes Drama zuerst in dem einfachen Sinne, dass sein Held die Menschheit repräsentiert: ein in alle Extreme gesteigerter Vertreter der zweideutigen Spezies Homo sapiens. Wie aber mit einem solchen Helden schon auf Goethes Bühne weder eine Familie zu gründen noch ein Staat zu machen ist, so taugt er rein gar nicht zur Idealgestalt, in der eine einzelne Nation sich an ihren Festtagen auf der Bühne gerührt anschauen könnte.
Er tut das noch aus einem zweiten Grunde nicht. Eben weil Faust ein exemplarischer Mensch sein soll und kein exemplarischer Deutscher, setzen sich seine Gestalt, die Szenerien, in denen er agiert, die Sprachen, die hier gesprochen werden, aus lauter Weltliteratur zusammen. Die vorgegebene Begegnung Fausts mit der griechischen Helena als der schlechthin begehrenswertesten aller Frauen: Goethe inszeniert sie unter Aufbietung seiner gesamten Verskunst als Begegnung zweier Sprachen, Kulturen, Denk- und Redeweisen, die durch Räume und Zeiten getrennt sind – sodass dann die ebenfalls vorgegebene Vereinigung, ohne Einbussen an szenisch-sinnlicher Präsenz, als Verschmelzung ebendieser Sprachen und Kulturen erscheint.
Diese Szene, Mittel- und Höhepunkt des zweiten Teils, ist nur die Spitze des weltliterarischen Eisbergs. Dessen oft nur zu ahnende, manchmal verborgene Masse ist das gesamte übrige Drama. Stoffe und Motive, Wissensbestände und Denkfiguren, Namen und Narrative unterschiedlichster Zeitalter und Kulturen ergeben hier ein unermesslich polyphones, in sich selbst immerfort bewegtes Ganzes. Goethes Weltgedicht eröffnet einen Hallraum, in dem Stimmen der Nationen und Zeiten, der mannigfaltigsten Disziplinen und Diskurse ineinander, miteinander und durcheinanderreden. Das hat manchmal tragische, zuweilen kabarettistische Züge. Und es ist, vom Kammerspiel bis zum barocken Opernpanorama, ganz grosses Theater.
Wie diese Dichtung, so müsste auch ihr Held, wollte er sich mit einem einzigen Satz präsentieren, von sich sagen, was Walt Whitman von sich selbst gesagt hat und was der achtzigjährige Bob Dylan ihm neulich nachgesprochen hat: «I contain multitudes.» Schon der Titelheld selbst ist das Ergebnis transeuropäischer Migrationsbewegungen. In den Varianten der populären «Historia von D. Johann Fausten» lagern sich im 16. Jahrhundert an die historische Gestalt eines wandernden Schwarzkünstlers alle möglichen Zauber-, Schwank- und Lehrerzählungen europäischer Erzählüberlieferungen an. Dass dann ausgerechnet Shakespeares genialer Konkurrent Christopher Marlowe aus diesen Stoffen sein Faust-Drama erschafft, das durch englische Jahrmarkts-Wanderbühnen und dann in unterschiedlichsten Puppenspielbearbeitungen erneut in die deutsche Populärkultur gerät, wo ein Frankfurter Knabe dem Stoff zum ersten Mal begegnet, das erscheint im Rückblick wie eine wundersame Odyssee – aus deren transnationaler Geschichte Goethe dann ein weltliterarisches Programm ableiten wird.
Aus alldem ein Nationaldrama und einen Nationalhelden zu machen, war nur um den Preis eklatanter Missdeutungen möglich. Es ist unheimlich, zu sehen, wie seit dem späten 19. Jahrhundert eine nationalgesinnte Germanistik alles daransetzt, Goethes Helden der Ambivalenz zum Bild des deutschen als eines «faustischen» Menschen, seine Verbrechen zu Grosstaten jenseits von Gut und Böse, seinen Untergang als Tragödie eines überlebensgrossen Deutschtums umzufälschen, den Faust doch noch zum Hermann zu machen. Und was einmal so unheilvoll wie erfolgreich begonnen hatte, liess sich unter wechselnden ideologischen Vorzeichen fortsetzen.
Es ist diese verhängnisvolle Identifikation der Gestalt mit der Nation, nicht Goethes weltbürgerliche Dichtung, auf die sich Thomas Manns grosser Einfall bezieht, seinen aus der Erfahrung von Krieg und Faschismus hervorgehenden Deutschland- als Faustus-Roman zu konzipieren (und dabei hinter Goethe zurück auf die älteren Überlieferungen zu blicken). Aber man stelle sich nur für einen Augenblick vor, Goethes eigenes, lebendiges, unabschliessbares Faust-Spiel wäre tatsächlich das Nationaldrama geworden, das es nie war: Was für eine Nation wäre das, die ihre kulturelle Selbstverständigung daraus bezöge? Weltoffen und witzig müsste sie sein, polyphon und beweglich, offen für Ambivalenzen und skeptisch im Umgang mit sich selbst. Es ist nicht auszudenken.
Heinrich Detering ist Professor für Germanistik und Komparatistik an der Universität Göttingen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 24. Juni 2021.