Wildnis, so weit das Auge reicht. Heiss ist es und anstrengend. Es ist unser letzter Reisetag. Wir kämpfen uns zu zweit auf der neuen Africa Twin durch den Theth-Nationalpark im Hinterland der nordalbanischen Stadt Shkodër. Die Landschaft wird schroffer, die Berge höher. Die höchsten Gipfel der albanischen Alpen erreichen hier knapp 2700 Meter und sind doch kaum bekannt. Vier Stunden Fahrzeit für achtzig Kilometer? Kein Problem in Albanien! Die unwegsame Gebirgspiste SH21 von Koplik über Theth und Kir nach Shkodër führt durch eine der wildesten Bergwelten Europas. Und fordert Töff und Besatzung alles ab. Jeder Zentimeter Bodenfreiheit und Federweg ist hier Gold wert. Aber auch die Asphaltstrassen sind eine Herausforderung. Meine Begleiterin Gabi meint, albanische Verkehrswege hätten die höchste Schlaglochdichte Europas. Ich denke: «Beste Bedingungen für jeden, der von einem Motorradabenteuer träumt.»

«Bong!» . . . Steinbrocken malträtieren das Schutzblech, zumal wir sitzend im Zweipersonenbetrieb loses Geröll, Felsabsätze und Wasserdurchfahrten zu bewältigen haben. Enge Kehren, kombiniert mit Steilanstiegen und grobem Schotter, erschweren das Vorankommen zusätzlich. Nicht weiter verwunderlich: Die SH21 ist als «Dangerous Road» klassifiziert. Gut, dass wir ein pistentaugliches Motorrad mit grob profilierten Pneus sowie Fahrpraxis auf losem Terrain vorweisen können. Auf der brandneu geteerten Nordanfahrt sind wir zunächst unerwartet fix bis zum Thora-Pass vorgestossen. Fast zwei Stunden dauert die knapp siebzig Kilometer lange Anfahrt von Shkodër bis Theth aber dennoch. Man muss einfach immer wieder anhalten und die wilde Schönheit dieser Landschaft auf sich wirken lassen.

Gesucht haben wir ein Enduro-Abenteuer, gefunden haben wir eine Perle des Balkans.

Vierzehn Tage sind wir nun schon unterwegs. Gesucht haben wir ein Enduro-Abenteuer, gefunden haben wir eine Perle des Balkans mit Tempeln, Kirchen und Moscheen. Wir besuchen Städte und hangeln uns durch herrliche Bergwelten zur Bierstadt Korça. Aus knapp sechzig Kilometern Luftlinie werden fast immer über hundert Strassenkilometer. Die gewundenen Linien zwischen unseren Etappenzielen stehen also auch auf Asphalt für traumhafte Motorradstrecken.

 

Troja im Kleinformat

Begonnen hat schon alles mit dem grösstmöglichen Kontrast. Kaum eine Stunde ist vergangen, seit unsere moderne Mittelmeerfähre in der griechischen Hafenstadt Igoumenitsa angelegt hat, da landen wir nur zwanzig Kilometer hinter der albanischen Grenze auf einer betagten Seilzugfähre. Sie bringt uns zum Unesco-Weltkulturerbe Butrint – ein Troja im Kleinformat, südlich von Sarandë gelegen, ein Zeugnis mediterraner Geschichte. Hier hat jede Epoche ihre Spuren hinterlassen: Ruinen aus griechisch-römischer, venezianischer und osmanischer Zeit.

Nur zwanzig Kilometer weiter stossen wir auf ein modernes, urbanes Zentrum: Sarandë, die Party-Hochburg des albanischen Tourismus. In der türkisfarbenen Bucht mit Blick auf Korfu geht der Punk ab. Die Uferpromenade wird allabendlich zum Laufsteg – was wir noch nicht wissen: Das ist in Albanien überall so. Flanieren, schnattern, feiern – bis tief in die Nacht, Restaurants und Cafés sind bis auf den letzten Platz besetzt. Mediterrane Lebensfreude beherrscht den Alltag – und das in einem Land, das als Armenhaus Europas gilt und eine bewegte Geschichte hat.

Der Osum-Canyon kann als einer der spektakulärsten Europas bezeichnet werden.

Abgerutschtes Geröll reisst mich aus den Gedanken. Bis dato sind wir sturzfrei durchgekommen. Jetzt nur keinen Fahrfehler machen. Es wird eng zwischen Felswand und dem einige hundert Meter tiefen Abgrund. Die schwindelerregenden Ausblicke auf Berge, Täler und uralte Einsiedlerhöfe sind atemberaubend. Solche Blicke in den Abgrund gibt es auch auf der SH71, die von Maliq nach Gramsh führt, oder auf der alten Pistenroute SH31 von Peshkopi nach Kukës am Fluss Drin entlang. Eine gute Vorbereitung auf die schwierigeren Schotterpassagen der Theth-Runde war die Strecke von Berat über Çorovodë und die Osum-Schlucht nach Përmet. Der Osum-Canyon kann als einer der spektakulärsten Europas bezeichnet werden. Im hinteren Teil der Schlucht wartet ein unbekannter Schotterpass mit grandiosen Bergpanoramen. Auch hier sind es die Gegensätze, die das Land ausmachen: Die Stadt Berat am Einstieg zum Schotterabenteuer wiederum ist ein populärer Besuchermagnet, Unesco-Weltkulturerbe und eine der schönsten und ältesten Ansiedlungen Albaniens. Berats historischer Kern ist von der Modernisierungswut der Kommunisten verschont geblieben. 1961 erklärte sie der damalige Diktator Enver Hoxha zur Museumsstadt. Albanien war für nahezu ein halbes Jahrhundert von einer stalinistischen Bürokratie beherrscht. Die regierende kommunistische Partei der Arbeit Albaniens unter Hoxha hielt sich bis 1990 durch Terror an der Macht. Auf ein Kruzifix im Haus stand die sofortige Erschiessung, auch private Autos waren nicht erlaubt. Fast jeder Albaner kennt jemanden, der damals inhaftiert oder verschleppt wurde.

 

Von Theth ins Kir-Tal

Die Piste wird immer schwieriger. Aber die Landschaft entschädigt für alles. Die Bergrücken fallen hier bis zu tausend Meter in die Täler, manchmal senkrecht oder gar überhängend. Dazu begleitet uns der würzige Duft von Kiefern und Pinien. Eben noch bewunderten wir das türkisfarbene Wasser aus der Vogelperspektive, schon führt uns eine unerwartet schwierige Passage in steilen Serpentinen erst auf einen Pass und dann ins Kir-Tal hinab.

Doch es sind nicht nur solche Pistenetappen, die unsere Tour ausmachen. Es gibt auch den Traumstrand an der der albanischen Adria in Sarandë. Und gleichzeitig Häuser in der Innenstadt mit Spiegelfassaden neben Bauruinen und Plattenbauten. Dennoch hat uns die Stadt fasziniert. Natürlich auch wegen ihrer guten Ausgangslage zur Erkundung der albanischen Riviera mit dem Töff. In zahlreichen Kehren zieht sich die bekannte SH8 nach Vlora zur Llogara-Passhöhe hinauf. Nur wenige Kilometer hinter der Küste des Ionischen Meers erheben sich hier Gipfel von über 2000 Metern Höhe. Wir hangelten uns durch herrliche Bergwelten, dicht an der griechischen Grenze, zur Bierstadt Korça. Vom Ohridsee ging’s dann über Kukës im Zickzack bis Shkodër.

 

Der letzte Tag

Im Vergleich dazu ist die Teth-Piste, auf der wir jetzt unterwegs sind, ein ganz anderes Kaliber: Seit dem Dorf Theth sind zwei Stunden vergangen, und wir haben gerade mal 38 Kilometer geschafft! Mühsam zuckeln wir die steinige Piste weiter. Kurve reiht sich an Kurve durch den tief eingeschnittenen Canyon.

Nach fünf Stunden Schotterfahrt erreichen wir das Dorf Kir und den Asphalt. Ab jetzt geht es im gemächlichen Kurvenschwung in Richtung Adriaküste. Morgen steht unser letzter Tag hier an. Die Fähre von Durrës nach Ancona wartet nicht. Doch unser heutiges Etappenziel werden wir nicht mehr erreichen – Plattfuss. Albanien ist immer für eine Überraschung gut.