Im Donbass nennt man sie die «Todesstrasse». Und jeder weiss, weshalb sie im Volksmund so heisst. Die dreissig Kilometer lange Strecke verbindet die Stadt Donezk, Hauptstadt der pro-russischen Separatisten der Region, und Gorlowka, die von den Separatisten kontrollierte Stadt.

Seit 2014 markiert diese Strasse die inoffizielle Grenze zwischen den pro-russischen Gebieten und der Ukraine. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird in diesem Gebiet intensiv gekämpft, pausenlos geschossen. Und viele sterben. Die Zivilbevölkerung ist zwischen den Fronten eingeschlossen. Den Bomben, Raketen und Granatsplittern, die auf sie prasseln, sind sie wehrlos ausgesetzt.

Mit maximal möglicher Geschwindigkeit rasen wir in Richtung Norden. Ohrenbetäubender Knall der Explosionen begleitet uns pausenlos. Auf der einen Seite stehen die Truppen der Russen, die von rechts schiessen, auf der anderen die der Ukrainer, die von links schiessen. In der Mitte, im Niemandsland, machen wir verlassene Häuser mit zerstörten Spitzdächern aus. Nach etwa vier Kilometern erreichen wir das letzte Dorf im Donbass, das von pro-russischen Milizionären kontrolliert wird. Dann rasen wir weiter, bis zur zur ukrainischen Stadt Avdiivka. Um uns vor den Bomben und Raketen zu schützen, suchen wir nach einem unterirdischen Raum.

In einem dunklen, feuchten Keller treffen wir dort auf russischsprachige Ukrainer, die eng zusammengepfercht leben, von der Angst gezeichnet, jederzeit von einem Geschoss getroffen zu werden. Die Bunker sind etwa einen Meter unter der Erde, dunkel und feucht. Der Boden ist schmutzig, sandig, der Raum wird nur vom schwachen Licht einer Glühbirne beleuchtet, die Menschen sitzen auf längst ausgedienten Sesseln und Matratzen. Man spricht wenig. Und schon gar nicht mit uns: Vielleicht liegt das daran, dass jeder Fremde hier im Verdacht steht, ein Spion zu sein. Die meisten schauen apathisch vor sich hin. Viele, die hier Zuflucht finden, stehen kurz vor einer Nervenkrise. Zum Beispiel die 46-jährige Natalia: «Wieso, wieso? Was haben wir Selenskyj so Schlimmes angetan, dass wir das verdienen und erleben müssen?», schreit sie.

Einige wagen es, nach oben zu gehen und die Tür leicht zu öffnen. Sie wollen etwas frische Luft schnappen oder eine kurze Weile mit den Nachbarn ein paar Worte wechseln. Bis sie gezwungen sind, sich schnell wieder nach drinnen zu verkriechen. Der Krieg hat sie wieder eingeholt.

Wir verlassen den Keller. Auf der von Glasscherben übersäten Strasse treffen wir Wladislav, einen älteren Mann mit weissen Haaren und wenigen Zähnen. Er hat im einzig verbliebenen Lebensmittelgeschäft eine Flasche Wodka erstanden. Von seinem Haus, heute ein halb zerstörtes Gebäude am Ende der Strasse, hat er einen direkten Blick auf Avdiivka, wo die Rakete abgefeuert wurde, die in der unmittelbaren Nähe seines Hause eingeschlagen ist. «Ich bleibe aber in meinem Haus», sagt er trotzig. «Ich würde meine Würde verlieren, wenn ich mich unter die Erde verkrieche.»

Dann bricht er in Tränen aus. Seine Frau sei vor zwei Wochen an einem Herzinfarkt gestorben. «Sie hat diese Spannung nicht ausgehalten, das war für sie kein Leben.» Schluchzt und erzählt mir das tragische Schicksal seines einzigen Sohnes. Er sei in die Miliz der russischen Republik Donezk eingetreten und im Kampf gefallen. Dann, nach ein paar Sekunden des Nachdenkens, sagt er: «Ich hatte auch eine Tochter, die in einem Donbass-Dorf lebt, das immer noch von den Ukrainern kontrolliert wird. Weil sie die ukrainische Regierung unterstützt, haben wir die Beziehungen abgebrochen. Wir reden nicht mehr miteinander.»

Etwas weiter im Westen betreten wir einen dichten Wald, um den sich Russen und Ukrainer streiten. Bald werden die Russen versuchen, den Forst zu erobern. Doch noch warten sie auf Verstärkung. Die Truppen werden derzeit noch in Mariupol und in Lugansk gebraucht.