Der «Niedergang Europas» ist keinesfalls Tatsache, schreibt Hartmut Kaelble, eremitierter Professor für Sozialgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, in einem Gastbeitrag für NTV.

Europas Wirtschaft sei widerstandsfähiger, als häufig angenommen. Die Besorgnis über einen möglichen ökonomisch Rückschritt sei zwar nicht unbegründet, es sollte aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass Industrien wie die Automobil- und die Flugzeugbranche nach wie vor robuste Standbeine darstellen.

Auch die demografische Entwicklung Europas mag auf den ersten Blick besorgniserregend wirken. Laut den Voraussagen der Uno bis zum Jahr 2050 ändere sich an einem entscheidenden Punkt allerdings nichts: Die EU bleibe mit rund einer halben Milliarde Einwohner hinter Indien und hinter China auf dem dritten Platz in der globalen Rangliste der Weltbevölkerung. Heisst: Es ist überhaupt nicht klar, dass die Europäische Union in den nächsten Jahrzehnten demografisch hinter die USA und auch hinter Indonesien, Nigeria und Pakistan in die dritte Liga absinken wird.

Und dass die Militärausgaben der europäischen Nato-Länder abgenommen haben, sei damit zu begründen, dass die meisten Europäer bis 2022 nicht mit einem Krieg in Europa gerechnet hätten, schreibt Professor Kaelble. Ob der Rückstand gegenüber den USA weiter zunehmen werde, könne bezweifelt werden. Gemäss Zahlen des Sipri hätten die europäischen Nato-Länder allerdings ein Dreifaches für das Militär ausgegeben als Russland, was der Abgesang relativiere. Zudem bestehe die Chance nach einer effizienteren Ausrüstung und Planung in Europa.

Professor Kaelbles Fazit lautet: Aus all dem auf ein «Europa im wirtschaftlichen und demografischen Niedergang zu schliessen, wäre verkehrt». Er schreibt: «Der Europäischen Union fehlen ohne Zweifel alle Voraussetzungen für eine Supermacht vom Rang der USA und Chinas. Aber statt über den Niedergang Europas zu reden, wäre es besser, zu diskutieren, welche globale Politik die Europäische Union als Nichtsupermacht wählen kann.»