Kissingers Stern leuchtet bereits hell am Firmament der internationalen Politik, als ich ihm Mitte der 1990er Jahre bei einem Bankett in Neu-Delhi vorgestellt wurde. In einer brillanten Rede ermutigte er Indien, seinen Isolationismus aufzugeben und sich wieder in die Weltpolitik einzubringen.

Als er geschlossen hatte, vertiefte er sich in Gespräche mit den geladenen Gästen und zeigte dabei eine seiner herausragenden Qualitäten. Der wohl grösste Staatsmann seit Metternich im frühen 19. und General Jan Smuts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lauschte dem jeweiligen Gegenüber ohne Allüren und voller Neugier.

Ich habe Kissinger danach mehrmals getroffen. Den grössten Eindruck hinterliess ein Mittagessen, das ich Ende der 1990er Jahre mit ihm und Sir Evelyn de Rothschild hatte. Während einer Diskussion über Asien sagte Kissinger, er habe gehört, dass Südkorea nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 wahrscheinlich einen weiteren Zusammenbruch erleiden würde.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits mehr als dreissig Geschäftsreisen nach Seoul unternommen und 1983 in der Stadt gelebt. Ich hatte an einem Beratungsprojekt für die Handelsbank Samuel Montagu gearbeitet, um die südkoreanische Regierung bei der Umstrukturierung ihrer Kapitalmärkte nach der zweiten Ölkrise zu beraten. 1992 hatte ich sogar Pjöngjang in Nordkorea besucht, um vor einem Ausschuss des Politbüros einen Vortrag über den Kapitalismus zu halten.

Also äusserte ich vor Kissinger die Überzeugung, dass es in Südkorea keine weitere Finanzkrise geben würde. Kissinger horchte auf und lauschte geduldig meinen Worten.

Ich machte eine Bedingung: Dass die globale Dotcom-Blase platzen würde. «Und wird sie platzen?», hakte Kissinger mit forensischer Intensität in seinem besonders attraktiven, kieseligen deutschen Akzent nach. «Ja, antwortete ich. Es ist eine Frage des Wann, nicht des Ob.»

Was mich am meisten beeindruckte, war, dass dieser berühmte Staatsmann, ein Mann, der dazu berufen war, die wichtigsten Führer der Welt zu beraten, Bereitschaft und grosses Interesse zeigte, einem jungen Anfänger wie mir zuzuhören. Diese Episode lehrte mich, dass für einen grossen Diplomaten die Fähigkeit zuzuhören genauso wichtig ist wie die Fähigkeit zu reden.

Francis Pike ist regelmässiger Autor für die Weltwoche. Ab den 1980er Jahren gründete er Investment-Unternehmen in Japan und ganz Asien, baute Investmentbanken auf dem indischen Subkontinent auf und leitete eine Reihe von Aktiengesellschaften in Grossbritannien. In verschiedenen Funktionen hat Pike Regierungen in Amerika, Asien und im Nahen Osten beraten.