Ungewöhnliche Zeiten befördern mitunter ungewöhnliche Einsichten.

Zum Beispiel bei Bärbel Bas (SPD), deutsche Bundestagspräsidentin. Angesichts der massiven antisemitischen Demonstrationen in Deutschland gab Bas in einem Interview zu Protokoll: Das Ausmass des Antisemitismus in Deutschland sei «viel zu lange» unterschätzt worden. «Wir als Gesellschaft haben den Antisemitismus nicht gesehen oder wollten ihn nicht sehen – ob in der Kulturszene, im Internet oder im Alltag.»

Wie bitte?

Wo hat Frau Bas in den letzten Jahrzehnten gelebt? Wo hat sie hingeschaut? Was hat sie gelesen?

Spätestens seit der Jahrtausendwende und den Anschlägen vom 11. September 2001 nimmt die Sichtbarkeit des Antisemitismus in Deutschland zu. Jeder, der wollte, konnte das sehen. Es war und ist überdeutlich. Im Netz, in traditionellen Medien, auf der Strasse.

Aber Frau Bas und das Milieu, für das sie steht, wollten nicht sehen. Denn hier ist klar: Antisemitismus gibt es nur von rechten Biodeutschen. Linker Antisemitismus? Importierter Antisemitismus von Migranten? Aus dieser Sicht ein Widerspruch in sich.

Aber das ist natürlich Unsinn. Linken Antisemitismus gab es schon immer. Und in den letzten Jahren gedeiht er besonders intensiv, getarnt als Anti-Kolonialismus, Anti-Imperialismus und Initiativen gegen antimuslimischen Rassismus. Man musste nur genau hinhören und genau hinsehen.

Wenn Frau Bas nun die gesamte Gesellschaft für ihr Versagen in Haft nehmen möchte («wir haben den Antisemitismus nicht gesehen»), dann muss man klar sagen: Nein! Es war die Linke, die ihn nicht gesehen hat.

Mehr noch: Jeder, der auf den linken und migrantischen Antisemitismus aufmerksam gemacht hat, wurde umgehend zur «umstrittenen» Person. Das eigene Versagen auf die Gesamtgesellschaft abzuwälzen, ist nicht nur unredlich, es ist vor allem feige.