Selten hat sich eine Nation so blamiert wie Deutschland in diesen Tagen. Und selten verschwand ein so handfester Skandal so beiläufig-gleichmütig unter dem Teppich der öffentlichen Wahrnehmung. Pfeif. Pfeif. Nationalname ist Hase. War nichts, weitergehen.

Der Fall: die neue «Wannseekonferenz» von Konservativen und Rechtsextremen bei Gelegenheit eines privaten Treffens in der Villa Adlon bei Potsdam vom November 2023, über die das teilweise staatlich finanzierte Recherche-Kollektiv Correctiv berichtet hatte. Hunderttausende waren daraufhin in Deutschland auf die Strasse gegangen, um den vermeintlichen Anfängen zu wehren, gegen angeblich «millionenfache Deportationen» zu protestieren und vor allem ein Zeichen «gegen rechts» zu setzen.

Und jetzt? Jetzt sagen ausgerechnet die Urheber des «Aufstands der Anständigen» schulterzuckend, dass sie nie etwas Monströses dieser Art behauptet hätten. Die Geschichte einer gezielten Anscheinserweckung und einer willigen Lemming-Gesellschaft im Gefolge!

Den ultimativen Beweis lieferte jetzt ausgerechnet der Correctiv-Anwalt in einem Verfahren, bei dem sich der Teilnehmer des Treffens, Jurist Prof. Ulrich Vosgerau (CDU), gegen die Behauptung wehrte, es sei über Massendeportationen gesprochen worden. «Demnach ist in diesem Verfahren nicht umstritten», so der Correctiv-Anwalt, «dass auf dem Treffen unter den Teilnehmern im Rahmen der Diskussion nicht weiter erörtert wurde, welche Möglichkeiten bestehen, aktuell deutsche Staatsbürger mit deutschem Pass unmittelbar auf Grundlage rassistischer Kriterien auszuweisen.»

Mit anderen Worten: Es ist doch wohl völlig unbestritten, dass wir nie behauptet haben, was Hunderttausende zum Anlass für Protestdemonstrationen nahmen, was Topmeldung in der ARD-«Tagesschau» war, die Bundesinnenministerin zum verschärften Vorgehen gegen «Hass und Hetze» inspirierte und vom Bundeskanzler in der Generalaussprache des Bundestages aufgegriffen wurde. Wir doch nicht.

Und in der Tat steht in der betreffenden Original-Passage des Correctiv-Berichts lediglich, woran sich die Autoren erinnert fühlen. Von Tatsachen keine Spur: «Was Sellner entwirft, erinnert an eine alte Idee: 1940 planten die Nationalsozialisten, vier Millionen Juden auf die Insel Madagaskar zu deportieren. Unklar ist, ob Sellner die historische Parallele im Kopf hat. Womöglich ist es auch Zufall, dass die Organisatoren gerade diese Villa für ihr konspiratives Treffen gewählt haben: Knapp acht Kilometer entfernt von dem Hotel steht das Haus der Wannseekonferenz, auf der die Nazis die systematische Vernichtung der Juden koordinierten.»

War was? Nö.

Man wird ja wohl noch schreiben dürfen, was einem so durch den Kopf geht und was man glaubt, das andere im Schilde geführt haben könnten, obwohl es dafür keine Belege gibt, und dass der Treffpunkt nur ein paar Kilometer von der historischen Wannsee-Villa sei. Muss doch möglich sein. Wir sind doch ein freies Land. Können wir doch nichts dafür, wenn anschliessend die CDU Mitglieder rauswirft, die am Treffen teilnahmen, eine Debatte über ein AfD-Verbot Fahrt aufnimmt und darüber, dass Thüringens AfD-Chef Björn Höcke die Bürgerrechte aberkannt werden könnten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach in dem Zusammenhang von «Rattenfängern», denen man nicht folgen solle. Wen genau er damit meinte und ob Correctiv darunter ist, sagte er nicht.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.