Luhansk

Dima ist 42 Jahre alt, hat kurzgeschnittene graue Haare, im Gesicht eine grosse Brille, in den Händen hält er ein fast zwei Meter langes Gewehr. Bis vor einem halben Jahr lebte und arbeitete er in einer Kleinstadt auf der Insel Sachalin an der russischen Küste zum Pazifischen Ozean, im äussersten Territorium der Russischen Föderation, nur wenige Kilometer von Japan entfernt. Doch dann, im September 2022, erhielt Dima wie viele seiner Landsleute einen Marschbefehl. Er meldete sich in der Kaserne. Nach einer dreimonatigen Ausbildung wurde er in den Donbass versetzt. Hier ist er seither als Scharfschütze gegen die ukrainische Armee im Einsatz.

«Sie sind sehr nah»

Er lebt und kämpft in den verschneiten Wäldern zwischen den Städten Swatowe und Kreminna, an der Grenze zwischen den Regionen Luhansk und Charkiw. Dieses Gebiet stand bis 2022 unter ukrainischer Kontrolle, dann wurde es im vergangenen Frühjahr von den Russen erobert. Jetzt verläuft hier eine der blutigsten Fronten dieses Krieges. Zusammen mit Hunderten anderer Soldaten hat Dima im Schlamm Dutzende von langen und tiefen Gräben ausgehoben, aus denen sie auf das ukrainische Militär schiessen. «Sie sind sehr nah», sagt er, während er in einen dieser Tunnels eindringt, «wir sehen sie manchmal schwach in der Ferne und hören ihre Schreie, die Beleidigungen, die sie uns zurufen.» Und dann fügt er an: «Aber die Ukrainer sind eigentlich nicht meine Feinde. Ich bin hier, um gegen die Vereinigten Staaten zu kämpfen.»

Viele seiner Kollegen, die um ihn herumstehen, nicken zustimmend. Auf den Uniformen sind bei einem grossen Teil rote Abzeichen mit Hammer und Sichel aufgenäht. «Es ist wie zu Zeiten der Sowjetunion», bestätigt einer der Soldaten, «die Amerikaner waren und sind unser erster und ärgster Feind.»

Dima ist, wie viele seiner Mitstreiter, die mit ihm in den Schützengräben kämpfen, kein Berufssoldat. Er gehört zu den 300 000 Reservisten der russischen Armee, die Putin im September 2022 im Zuge der Mobilisierung einberufen hat. Als er am 24. Februar 2022 seine Truppen in Richtung Kiew losschickte, herrschte die Erwartung, dass die Offensive nach wenigen Tagen mit einem Sieg enden werde. Es galt als sicher, dass die russischen Soldaten in Kiew einmarschieren, Selenskyj vertreiben oder festnehmen und eine prorussische Regierung einsetzen würden, um der Ukraine die Nato-Träume auszutreiben.

Aber die ukrainische Armee und das ukrainische Volk zeigen, zumindest bis jetzt, einen von Putin nicht erwarteten Kampfgeist und eine eiserne Entschlossenheit. Das zwingt den Russen einen erschöpfenden Stellungskrieg auf, der zurzeit hauptsächlich im Donbass ausgetragen wird. In den dichten Wäldern rund um Donezk und Luhansk stösst man auf Soldaten ganz unterschiedlicher Herkunft: russische Berufssoldaten und lokale Milizkräfte, Söldner und Freiwillige, ethnische Russen und asiatische Russen, Alte und Junge.

«Faschisten, Nazis, Banderisten», rufen die Russen den «Ukrop» zu, so der abschätzige Begriff für Ukrainer.

Das Thermometer zeigt zehn Grad unter null, und der Wind heult. Am Himmel über uns sausen Hunderte von Raketen unaufhörlich in beide Richtungen, gefolgt von langanhaltenden Pfiffen. Fortschritte sind kaum auszumachen. «In den letzten zwei Monaten sind wir nur anderthalb Kilometer vorangekommen», hört man in der Gruppe. Sie hätten keine Befehle zu militärischen Zielen erhalten. Nur eines sei ihnen klargemacht worden: «Dass wir dem Feind so viel Schaden wie möglich zufügen müssen. Wir sollen die ukrainische Armee schwächen, ihre Waffen zerstören, ihre Soldaten töten», habe man ihnen eingebläut. «Zudem sollen wir die Waffenlieferungen angreifen, welche die Ukrainer aus westlichen Ländern erhalten.»

Erreicht man die Frontline bei Kreminna, wird der Unterschied zwischen den beiden Armeen deutlich: Die Russen können auf eine viel grössere Zahl von Soldaten zurückgreifen als die Ukrainer. Die Ukrainer verfügen demgegenüber über deutlich modernere Waffen und Technologien.

Diese Analyse der Unterschiede wird schlagartig bestätigt: Aus der Tiefe eines Grabens feuert ein russischer Scharfschütze auf den Feind gegenüber. Er tut dies mit einer DSchK, dem überschweren sowjetischen Maschinengewehr, hergestellt 1938. Auf meine Frage, warum die russische Armee dermassen alte Waffen verwende, antwortet er: «Wir müssen uns mit dem begnügen, was wir haben. Wir sind nicht die Ukraine, die ständig Nachschub erhält. Jedes Mal, wenn wir ihre Fahrzeuge abschiessen, schaffen sie es, sofort neue an die Front zu bringen.»

Wäre da nicht der Einsatz von Drohnen und modernen Kommunikationssystemen, könnte man meinen, die russischen Soldaten, die heute im Donbass kämpfen, seien dieselben, die im Zweiten Weltkrieg in dieser Region gegen die Deutschen und Italiener gekämpft hatten. Sie setzen praktisch gleiche Waffen ein, tragen ähnliche Uniformen, selbst die kommunistischen Symbole auf Uniformen und Flaggen sind dieselben. Auch Beschimpfungen wie damals werden dem Feind entgegengerufen. «Faschisten, Nazis, Banderisten», rufen die Russen den «Ukrop» zu, so der abschätzige Begriff für die Ukrainer. Behauptet ein russischer Soldat: «Dass die Ukrainer zum Sieg entschlossen sind, zeigt, dass sie einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.»

Geisterstadt unter russischer Kontrolle

Viele russische Soldaten haben im Laufe der letzten Monate ihre Meinung zum Konflikt geändert. «Ich war anfänglich gegen den Krieg», meint zum Beispiel einer, der nach Weihnachten an die Front geschickt wurde, «aber wenn wir besiegt werden, fürchte ich, dass Russland von westlichen Geschäftsleuten besetzt wird, wie es in den neunziger Jahren geschah, als unser Volk hungern musste. Es war schrecklich, und es ist jetzt meine Pflicht, dafür zu kämpfen, dass das nicht noch einmal geschieht.»

Trotz der Bomben, der Kälte, der grossen Anstrengungen und der technologischen Schwächen sind die meisten russischen Soldaten entschlossen weiterzukämpfen. Ihre Stärke, sagen manche, sei vor allem ihre Hartnäckigkeit. «Während des Grossen Vaterländischen Krieges standen die Deutschen vor den Toren Moskaus, aber wir haben damals nicht aufgegeben, und wir werden auch heute nicht aufgeben», sagt Dima.

Putins Soldaten müssen in der Region Luhansk auch mit dem Widerstand pro-ukrainischer Kollaborateure fertigwerden. Sie seien zwar nur ein kleiner Teil der meist pro-russischen Bevölkerung des Donbass, sagen die Russen. Trotzdem seien die Kollaborateure «ein grosses Problem».

Ein Jahr nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine fordert der Krieg weiterhin Opfer unter der Zivilbevölkerung. Kreminna zum Beispiel, bloss ein paar Kilometer von der Front entfernt, ist jetzt eine Geisterstadt unter russischer Kontrolle. Die Bevölkerung ist vor Monaten geflohen, die Strassen sind leer, die Häuser liegen in Trümmern. Nur ein paar alte Männer sind zu sehen. Die einen befinden sich mit den ukrainischen Soldaten auf dem Rückzug in Richtung Kiew, die anderen nach Donezk, Luhansk – oder nach Russland.

Luca Steinmann ist ein schweizerisch-italienischer Journalist. Seit Beginn verfolgt er den Ukraine-Krieg aus dem Donbass als fast einziger westlicher Reporter auf der Seite der Russen.