Dieser Essay erschien zuerst auf dem Online-Portal Focus.

Der Sinkflug der Ampelregierung geht weiter.

Kann ihr wirklich nichts neuen Auftrieb geben? Theoretisch schon. Doch in der Praxis verhĂ€lt es sich mit Scholz und Co. wie mit einem Alkoholkranken, der den Rat zum Verzicht auf liebgewordenen Stoff mit der Behauptung zurĂŒckweist, das angebliche Problem – wenn ĂŒberhaupt bestehend – wĂ€re lĂ€ngst im Griff.

Was aber ist das Kernproblem dieser Regierung?

In ihr regiert eine Minderheit gegen die nunmehr erfahrungsbelehrten WĂŒnsche und Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Die Anliegen dieser Mehrheit zu vertreten, wurde seit rund einem Jahrzehnt als rechtspopulistisch abgetan. Gar fĂŒr moralisch minderwertig erklĂ€rt wurde die Forderung nach einem Ende der selbstermĂ€chtigten Zuwanderung nach Deutschland, und als ganz nachrangig ausgegeben wurde das Verlangen nach niedrigen Energiepreisen, nĂ€mlich angesichts des – im Fall einer anderen Energiepolitik – nicht mehr abzuwendenden Hitzetods der Menschheit.

Die Nebenwirkungen der gottesdienstartig gefeierten Willkommenskultur und einer Weltklimarettung nach deutschem Wesen

Am Elend der Ampelregierung Ă€ndert es auch nichts, dass sie fast ĂŒberall nur die Politik der CDU-Kanzlerin Merkel fortsetzt. Denn schon deren Kurs wurde von der heutigen Kanzler-SPD mitgeprĂ€gt, von den GrĂŒnen eingefordert und von tonangebenden Medien als alternativlos gepriesen.

Das machte Angela Merkel höchst populĂ€r und brachte die CDU zum VergrĂŒnen, solange die Folgen solcher Politik nicht weithin fĂŒhlbar waren. Doch allenthalben sichtbar sind nunmehr die Nebenwirkungen der einst gottesdienstartig gefeierten Willkommenskultur und einer Weltklimarettung nach deutschem Wesen.

Als höchst befreiend wĂŒrden derzeit die meisten im Lande eine Rede zur «Zeitenwende» auch hinsichtlich unserer Migrations- und Energiepolitik empfinden. Diese mĂŒsste allerdings ebenso klar die bisherigen Fehler benennen und tatkrĂ€ftige Abhilfe in Aussicht stellen, wie das einst des Kanzlers Rede nach Russlands Einmarsch in der Ukraine tat.

Wer als Sozialdemokrat oder GrĂŒner solchen Aufbruchsgeist ebenso glaubwĂŒrdig verkörpern könnte wie Deutschlands derzeitiger Verteidigungsminister, der wĂŒrde wohl auch dessen Anstieg an öffentlicher Beliebtheit erleben. Das Erfolgsgeheimnis wĂ€re einmal mehr: Man gibt sich nicht wie «von der Wirklichkeit feindlich umzingelt», sondern spricht klar aus, welche realen, durchs WegwĂŒnschen nicht vergehenden ZusammenhĂ€nge beim politischen Handeln berĂŒcksichtigt werden mĂŒssen – und stellt sich dann bereitwillig samt Sachverstand auf sie ein.

Die endlich einzusehenden Grenzen des Regierens in Deutschland

Zu jenen Sachverhalten, aus denen sich Gebote praktischer Politik ergeben, gehört derzeit vor allem, dass solche Zeiten des Überflusses vorbei sind, in denen der deutsche Sozialstaat auch ohne haushaltsrechtliche Tricksereien immer mehr ausgebaut und seit 2015 auch noch auf Zusicherungen fĂŒr alle Menschen ausgedehnt werden konnte, die in Deutschland noch lieber leben wollen als in anderen freiheitlichen Staaten.

Zum in unseren Zeiten schlicht hinzunehmenden Rahmen deutscher Politik gehört ebenfalls, dass es sehr töricht wĂ€re, die Grenzen der Belastbarkeit unserer Wirtschaft noch weiter auszutesten, nĂ€mlich durch bĂŒrokratische GĂ€ngelung und habgierige Gewinnabschöpfung seitens des Staates. Oder dass ein blosses Wegsubventionieren jener rein politisch herbeigefĂŒhrten Höhe unserer Wirtschaft und Wohlstand schĂ€digenden Energiepreise den bisherigen politischen Dummheiten nur eine weitere hinzufĂŒgte.

Obendrein gehört zu den endlich einzusehenden Grenzen des Regierens in Deutschland, dass ein Grossteil der BĂŒrgerschaft nicht nur des belehrenden Tons in regierungsseitig geschĂ€tzten Medien ĂŒberdrĂŒssig ist, sondern dass die Leute im Land ĂŒberhaupt beginnen, allergisch auf weiteres politisches Erziehungsverhalten zu reagieren.

Dieses begann damit, dass regierungskritische Positionen – sofern nicht klar links, grĂŒn oder woke – als rechtspopulistisch, rechtsradikal oder gar rechtsextrem ausgegeben sowie mit Ausgrenzungsgeboten hinsichtlich jener Leute versehen wurden, die sich als besorgte BĂŒrger oder gar empört Ă€usserten.

Staatliches Erziehungsverhalten und wie ein wirkungsvoller Befreiungsschlag der Ampelparteien aussehen mĂŒsste

Nicht vergessen wurde, wie sich staatliches Erziehungsverhalten wĂ€hrend der Corona-Pandemie in Freiheitseingriffe umsetzte, die allzu oft als Mischung aus Hilflosigkeit und WillkĂŒr anmuteten, aber dennoch vertreten wurden wie ein Ausbund an wissenschaftlicher Weisheit und politischer Klugheit. Von etlichen wird auch nicht vergessen, dass Politiker bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik Wasserwerfer einsetzen liessen, wĂ€hrend Anti-Israel-Kundgebungen weiterhin wie islamische Folklore-Veranstaltungen behandelt werden.

Und das Fass zum Überlaufen bringt fĂŒr viele, dass nicht einmal das Wahlkreuz fĂŒr die Unionsparteien ein Ende grĂŒn dominierter Politik bewirken kann, weil nĂ€mlich noch jahrelang kein Unionspolitiker es wagen darf, andere als Anti-AfD-Koalitionen zu schmieden – und weil sich viele unbeliebte Politiker von SPD, GrĂŒnen und Linken genau in CDU-gefĂŒhrten Anti-AfD-Koalitionen an der Macht halten werden.

Vielleicht sÀhe in dieser Lage der wirkungsvollste Befreiungsschlag der Ampelparteien so aus: Ihre Bosse erklÀrten öffentlich, dass eine politische Position nicht allein schon dadurch falsch wird, dass auch die AfD sie vertritt, weshalb man sich fortan auf sachlichen Streit auch um die politischen EinschÀtzungen und VorschlÀge der AfD einlassen werde.

Man fĂŒgte dem idealerweise hinzu, dass es womöglich besser gewesen wĂ€re, schon eher auf Warnungen vor einer möglichen «Islamisierung des Abendlandes» zu hören, wie sie vor knapp zehn Jahren lautstark in Dresden erklangen. Auch könnte man betonen, dass gerade die Unionsparteien grosse Verantwortung fĂŒr die jetzt so ĂŒble Lage trĂŒgen – und zwar nicht nur deshalb, weil die von ihnen heftig bejubelte Kanzlerin Politikwenden hinein in Sackgassen unternahm, sondern weil CDU und CSU vor knapp zwanzig Jahren aufhörten, von der rechten Mitte bis zu gerade noch akzeptablen Leuten am rechten Rand wirklich alle ins Gewicht fallenden nichtlinken KrĂ€fte in einer pluralistischen Union zusammenzufĂŒhren und allein in deren Reihen auf dann konstruktive Weise wirkkrĂ€ftig zu machen.

Immer noch wird jeder Kater mit weiteren Schlucken aus der Pulle politischer Illusionen bekÀmpft

Draufsetzen liesse sich noch der Vorwurf, dass die Union zu unser aller Nachteil weiterhin keinerlei Versuche unternimmt, der AfD ebenso Anreize fĂŒr den Wandel hin zu einer koalitionsfĂ€higen Partei zu setzen, wie das einst die SPD in vorbildlicher Weise hinsichtlich von GrĂŒnen und PDS vorgemacht hat.

Gewiss merkt jeder, der diese VorschlÀge liest, dass sie bei den Ampelparteien auf die gleiche Zustimmung stossen werden wie die Bitte einer Ehefrau, ihr Mann möge mit dem Trinken aufhören. Dabei lÀge es doch in dessen eigenem Interesse, sich einer solchen Bitte nicht zu verschliessen.

Und tatsÀchlich passt dieses Beispiel nicht nur zur derzeitigen Lage der Ampelkoalition, sondern auch zu jener der Union. Regelrecht besoffen haben sie sich alle an Deutschlands Wandel zur MultikulturalitÀt und MultiethnizitÀt, die nun doch nicht ganz so doll geworden sind, an unserer weltrettenden Klima- und Energiepolitik, an einer Erziehungs- und Sozialpolitik, die möglichst jedem auch ohne sonderliche Bildungs- und Leistungsanstrengung ein auskömmliches Leben ermöglicht.

Immer noch wird jeder Kater mit weiteren Schlucken aus der Pulle politischer Illusionen bekĂ€mpft – und immer noch nicht mit Lernwillen, Selbstdisziplin und den MĂŒhen eines Neuanfangs. Aber gerade den wĂŒnscht sich ein Grossteil derer, die schon lĂ€nger im Lande leben.

Werner J. Patzelt ist Politikwissenschaftler und war 28 Jahre Inhaber des Lehrstuhls fĂŒr Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen UniversitĂ€t Dresden. Er ist Mitglied der CDU.