«Es gilt die Unschuldsvermutung»: Diese Phrase ist bei Medien hoch im Kurs. Allein in den letzten zwölf Monaten war sie über 2000 Mal in Schweizer Zeitungen zu lesen.

Die Unschuldsvermutung gilt auch, wenn jemand bei Tageslicht mitten in einer Stadt vor hundert Zeugen einen Mord begeht. Solange kein abschliessendes Gerichtsurteil vorliegt, gilt der Verdächtige offiziell als unschuldig.

Beim russischen Präsidenten Wladimir Putin halten es die Zeitungen damit weit lockerer. Sie machen sogar das Gegenteil. Allen voran die Blätter des Verlags CH Media.

«Ein Mord, kein Tod: Alexei Nawalny bezahlt mit dem Leben»: So titelten sie kurz nach Bekanntwerden seines Tods.

Einen Tag später ging es mit derselben Wortwahl weiter: «Mit dem Mord an Alexei Nawalny stirbt der Traum vom schönen Russland.» Im Text selbst hiess es: «Der Kreml entledigt sich seines schärfsten Kritikers.»

Wieder einige Tage später doppelten die Blätter von CH Media nach. Über Nawalnys Frau schrieben sie: «Wird sie Putins nächstes Opfer?»

Einige Medien sind etwas vorsichtiger und dennoch eindeutig. So spricht beispielsweise die deutsche Taz von einem «Mord auf Raten», andere versehen den Mordvorwurf mit einem Fragezeichen.

Auch Politiker halten wenig von einer ordentlichen Untersuchung und Beweisführung vor einem Schuldspruch. CDU-Parteichef Friedrich Merz nannte Nawalnys Tod einen «politisch motivierten Mord». Die EU sprach nicht von Mord, sondern von einem «tragischen Tod», machte aber ebenfalls Russland verantwortlich.

Selbst in den eindeutigsten Fällen mahnen die Medien gern, man dürfe nicht vorverurteilen. Denn zumindest in unseren Breitengraden galt bisher, dass ein Beklagter nicht seine Unschuld beweisen muss, sondern die Ankläger die Schuld.

Ausser natürlich, man heisst Wladimir Putin.