Dieser Text von US-Publizist Patrick Lawrence erschien zuerst auf dem Online-Portal GlobalBridge.
Lassen Sie mich mit einer Feststellung beginnen, die meiner Meinung nach selbstverständlich ist, auch wenn sie selten beachtet wird. Sie lautet wie folgt: Politik und Psychologie sind untrennbar miteinander verbunden. Das scheint mir eine besonders hilfreiche Wahrheit zu sein, und ich greife auf Erich Fromm und Carl Gustav Jung zurück, um sie zu erklären. Die Menschen, die Individuen, formen die Gesellschaften, aber die Gesellschaften formen ebenso die Individuen.
Hier werde ich mich mehr mit der zweiten Aussage befassen als mit der ersten. Die US-Amerikaner haben die USA gemacht, das stimmt, aber mich interessiert jetzt mehr, wie die USA die US-Amerikaner gemacht hat, wie Amerika die Psychologie der Amerikaner geformt hat, ihr Bewusstsein, das sie so deutlich von anderen unterscheidet.
Als US-Amerikaner, der die Dinge sozusagen von innen nach aussen sieht, bin ich seit langem der Meinung, dass das Verhalten und die Richtung meines Landes, die in den letzten zwei Jahrzehnten durchweg nach unten gerichtet war, vor allem als ein Fall von kollektiver Psychologie zu verstehen ist – Sozialpsychologie ist hier vielleicht der treffende Begriff. Es gibt viele Ereignisse, die zu berücksichtigen sind, aber es ist die zugrundeliegende Psychologie, die die Amerikaner bei diesen Ereignissen antreibt, und ich bitte dringend darum, darauf achten, um sie, die Amerikaner, zu verstehen. Seit 2001 sind wir ein verletztes, unsicheres Volk. Dieser psychologische Zustand darf bei der Betrachtung der amerikanischen Politik in diesem Jahrhundert nicht ausser Acht gelassen werden.
Damit komme ich zu unserem Thema, das weit über die Folgen der Anschläge von 2001 in New York und Washington hinausgeht. Was Amerika während seiner gesamten Existenz war, was die Vereinigten Staaten schon waren, bevor sie überhaupt Vereinigte Staaten hiessen, muss zuerst in seiner Psychologie verstanden werden. Ich spreche jetzt vom gemeinsamen Verständnis, das wir gemeinhin als amerikanischen Exzeptionalismus bezeichnen.
Richard Hofstadter, ein bekannter und sehr guter Historiker der Nachkriegszeit, hat einmal gesagt, Amerika sei weniger eine Nation als vielmehr eine Ideologie. Das bringt mich direkt auf den Punkt. Was Amerika seit vier Jahrhunderten auszeichnet, ist das, was ich sein Ausnahmebewusstsein nenne, obwohl wir genauso gut Hofstadter folgen und den Exzeptionalismus als Amerikas Ideologie bezeichnen könnten.
Wenig, was Amerika seit den frühesten Siedlungen und den Quäker-Hinrichtungen durch Erhängen im späten 17. Jahrhundert bis zu seinen Kriegen im 19. Jahrhundert getan hat, Expansionen und Annexionen bis hin zu den antikommunistischen Kreuzzügen im letzten Jahrhundert, Vietnam und all den Putschen und Interventionen in den Jahrzehnten nach 1945: Um all das zu verstehen, müssen wir die zugrunde liegende, treibende Psychologie sehen. Ich sage das nicht, um die Bedeutung und Kraft von Politik und Geschichte zu vernachlässigen. Das darf man niemals tun. Ich sage das, weil all diese Ereignisse, so unterschiedlich sie als historische Phänomene auch sein mögen, demselben Bewusstsein entspringen: Sie sind alle Teil desselben Grundphänomens.
Und das alles gilt, das muss man kaum erwähnen, auch für all das, was wir jetzt erleben: Der grausame und unmenschliche Stellvertreterkrieg in der Ukraine, die gefährlich provokative Einkreisung Chinas, Amerikas widerspenstiges Verhalten im Nahen Osten, in Lateinamerika: Hinter all dem steckt der Anspruch Amerikas auf Exzeptionalismus, der Anspruch, eine Ausnahme-Nation zu sein.
Wir müssen uns also an unseren Ausgangspunkt erinnern: Es gibt die Politik, die hinter diesen Ereignissen steht, und es gibt die zugrunde liegende Psychologie, die diese Ereignisse widerspiegeln.
Der Wendepunkt 9/11
Wenn es in dieser Frage einen Unterschied zwischen unserer Zeit und früheren Zeiten gibt, dann liegt er meines Erachtens in diesem Punkt: Wir sprechen von der Zeit vor 2001 und von der Zeit nach 2001.
Seit 2001 hegen die Amerikanerinnen und Amerikaner einen tiefen Zweifel, einen unterschwelligen, nie offen ausgesprochenen Verdacht, dass sie eigentlich keinen Anspruch auf einen Ausnahmestatus haben. Das ist etwas Neues in der amerikanischen Geschichte. Wie ich bereits erwähnt habe, haben die beiden Anschläge auf amerikanischem Boden die Amerikaner mit der Realität konfrontiert, dass sie der Macht Anderer genauso schutzlos ausgeliefert sind wie alle anderen, dass sie nicht, wie zuvor angenommen, gegen die Macht der Geschichte immun sind, dass sie dem Zahn der Zeit genauso schutzlos ausgeliefert sind wie alle anderen.
Diese Selbst-Zweifel sind beispiellos in der amerikanischen Geschichte und gehen sehr tief. Sie haben ihre Wurzeln in der Vietnam-Ära, und darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Für den Moment muss ich kurz hinzufügen, dass die Auswirkungen dieser Zweifel nicht so waren, wie man hätte erwarten können. Die Amerikaner haben sich seit 2001 nicht gesagt: «Wir müssen neu denken. Wir müssen eine neue Vorstellung von uns selbst und unserem Platz in der Welt finden, eine neue Vorstellung davon, was wir tun sollen.» Nein, die Amerikaner haben genau das Gegenteil getan: Sie haben versucht, ihre Zweifel zu verleugnen, sie wie unter einem Kissen zu ersticken, indem sie immer schriller und beharrlicher ihre Ausnahmeposition verkündeten – und diese in ihrem Verhalten im Ausland immer stärker betonten.
Das Ergebnis ist das furchtbare Chaos, das wir sehen, wenn wir aus dem Fenster schauen. Von Ereignis zu Ereignis erleben wir eine immer grössere globale Unordnung, deren Ursache niemand anderes ist als die Nation, die sich bei jeder Gelegenheit als Verfechterin der so genannten «regelbasierten Ordnung» präsentiert. Ich lese in diesem Verhalten nicht so sehr Zuversicht als vielmehr Unsicherheit.
Angesichts der allgemeinen amerikanischen Reaktion auf die Tragödien des Jahres 2001 müssen wir uns eine sehr wichtige Frage stellen. Kann Amerika auf sein Ausnahmebewusstsein verzichten? Oder ist dieses Bewusstsein tatsächlich unverzichtbar für Amerika?
Mit anderen Worten: Kann es ein Amerika ohne seine Vorstellung von seinem eigenen Ausnahme-Status überhaupt geben? Oder würde Amerika, wenn dieses Ausnahme-Selbstbewusstsein wegfallen würde, gar nicht mehr zusammenhalten, sich selbst nicht mehr kennen und somit nicht mehr Amerika sein?
Wenn Hofstadter recht hatte, als er sagte, Amerika sei mehr eine Ideologie als eine Nation, was passiert dann, wenn diese Ideologie die Menschen, die in sie investieren, im Stich lässt?
Es ist natürlich nervenaufreibend, solche Fragen zu stellen, denn ich kann mir vorstellen, dass die Antwort deprimierend ausfallen könnte: Kein Exzeptionalismus, kein Ausnahme-Selbstverständnis mehr, kein Amerika mehr in der einen oder anderen Form. Aber mit dieser Frage im Hinterkopf möchte ich heute das Thema des amerikanischen Exzeptionalismus ausleuchten.
Ich schlage vor, mir selbst und meiner pessimistischen Sichtweise vorzugreifen, um kurz zu überlegen, wie ein Amerika ohne seinen Exzeptionalismus, ohne sein Ausnahme-Selbstbewusstsein, ein post-exzeptionalistisches Amerika also, aussehen könnte – unter der Annahme, dass ein solches überhaupt möglich ist.
Ein Rückblick in die Geschichte
Die Ursprünge des amerikanischen Selbstverständnisses sehen wir gemeinhin bei den ersten Siedlern, die aus England über den Atlantik kamen. Es war John Winthrop, der uns in seiner berühmten Predigt von 1630 die «Stadt auf dem Hügel» schenkte und verkündete, dass «die Augen aller Menschen auf uns gerichtet sind». Aber wir müssen mehr noch ins 18. und 19. Jahrhundert blicken, als Amerika sich selbst zu einer Nation machte, um den Begriff «Ausnahmezustand» vollständig zu begreifen. Und sofort finden wir ein Durcheinander von Bedeutungen. Für einige bezog sich der Exzeptionalismus auf die revolutionäre Geschichte der neuen Nation, ihre Institutionen und ihre demokratischen Ideale. In den Anfangsjahren der Nation wurde sie aber auch einfach wegen ihres Reichtums an Land und Ressourcen als aussergewöhnlich angesehen, ohne dass diese Idee einen ideellen Aspekt hatte.
Alexis de Tocqueville (1805–1859) wird oft als der erste angesehen, der die Amerikaner als aussergewöhnlich bezeichnete. Aber er meinte damit, und ich zitiere hier, «ihre streng puritanische Herkunft, ihre ausschliesslich kommerziellen Gewohnheiten, die Fixierung ihres Geistes auf rein praktische Dinge». Es ist also ein langer Weg von de Tocquevilles Zeit bis zu der unsrigen: Das Ausnahme-Bewusstsein hat sich von einer einfachen materiellen Beobachtung zu einem Glaubensartikel, einem ideologischen Imperativ, einer Annahme des ewigen Erfolgs und dem Anspruch entwickelt, über den Gesetzen zu stehen, die für alle anderen Nationen gelten.
Im Folgenden möchte ich ein paar historische Kuriositäten auf dem Weg zum Verständnis des amerikanischen Exzeptionalismus, wie wir ihn heute haben, aufzeigen.
Es war kein Geringerer als Stalin, der den Begriff «amerikanischer Exzeptionalismus» in den allgemeinen Sprachgebrauch brachte. Das war in den späten 1920er Jahren, als eine Fraktion der Kommunistischen Partei Amerikas Moskau darauf hinwies, dass Amerikas Wohlstand und das Fehlen klarer Klassenunterschiede es immun gegen die Widersprüche machten, die Marx im Kapitalismus sah. Stalin war wütend: Wie können diese Amerikaner es wagen, von der Orthodoxie abzuweichen und ihre Nation zu einer Ausnahme zu erklären? Doch trotz der Empörung des sowjetischen Führers hielten viele amerikanische Intellektuelle seinen Ausspruch für eine geniale Zusammenfassung der bisherigen Geschichte Amerikas.
Gleichzeitig gehörte W.E.B. Du Bois (1868–1963), der berühmte schwarze Historiker und Intellektuelle, zu den ersten prominenten Kritikern der Vorstellung, Amerika und sein Volk seien in irgendeiner Weise einzigartig und dem Rad der Geschichte nicht unterworfen. Sein Biograf nannte ihn deshalb eine der «Ausnahmen des Exzeptionalismus».
Du Bois fand die Quelle unserer modernen Idee des Exzeptionalismus in den Post-Bellum-Jahrzehnten, die zum Spanisch-Amerikanischen Krieg führten (1865–1898). Er behauptete, dass sich in diesem Zeitraum von etwa dreissig Jahren zwei Visionen von Amerika herausgebildet hätten. In der einen würde Amerika endlich die Demokratie erreichen, die in seinen Gründungsidealen zum Ausdruck komme. Die andere stelle eine fortschrittliche Industrienation dar, die sich durch ihren Reichtum und ihre Macht auszeichnete. Ein Imperium im Ausland, eine Demokratie im eigenen Land: In dieser Kombination sollten diese beiden Versionen von Amerikas Schicksal etwas Neues unter der Sonne sein, und diese Verschmelzung würde Amerika zur wahrhaft großen Ausnahme in der Geschichte machen.
Innen eine Demokratie, aussen ein Imperium?
Das war dann allerdings nie mehr als ein unmöglicher Traum. Imperium und Demokratie lassen sich niemals vereinen, wie wir Amerikaner heute schmerzlich feststellen müssen. Für Du Bois war die Vorstellung, beides miteinander zu verbinden, «das Gesäusel des Exzeptionalismus», wie es sein Biograf formulierte, das in erster Linie dazu diente, von den bitteren Realitäten des «Gilded Age» (des vergoldeten Zeitalters) und der Grossen Depression abzulenken.
1941, sechs Jahre nachdem Du Bois diese Gedanken veröffentlicht hatte, erklärte Henry Luce (1898–1967) in einem berühmten Leitartikel des «LIFE»-Magazins das zwanzigste Jahrhundert zum «amerikanischen Jahrhundert». Jetzt kommen wir zum amerikanischen Exzeptionalismus, zum Ausnahme-Selbstbewusstsein, wie wir es heute haben. Amerika sei, ich zitiere hier, «die mächtigste und vitalste Nation der Welt», schwärmte der berühmte Verleger. Es sei «unsere Pflicht und unsere Chance, den vollen Einfluss auf die Welt auszuüben, zu den Zwecken, die wir für richtig halten, und mit den Mitteln, die wir für richtig halten».
Henry Luce hatte, ohne selbst diesen Begriff zu benutzen, den amerikanischen Exzeptionalismus in seiner 20. Jahrhundert-Version definiert. Und von seiner Zeit bis heute ist der Aspekt, den wir als religiös oder ideologisch bezeichnen können, bei vielen seiner Apostel nur noch deutlicher geworden.
Die Verunsicherung begann mit Vietnam
Die amerikanische Niederlage in Vietnam im Jahr 1975 markiert den Moment, in dem sich der Charakter des amerikanischen Exzeptionalismus grundlegend änderte. Um es einfach auszudrücken: Das Bekenntnis zum amerikanischen Exzeptionalismus war bis dahin ein Ausdruck des Selbstbewusstseins gewesen, ein Ausdruck, der oft, wie im Fall von Henry Luce, unangenehm auffiel. Nach dem Aufstieg von Saigon, wie ich es gerne ausdrücke, traten Selbstzweifel an die Stelle des alten Selbstbewusstseins. Es war, als ob der Boden unter den Füßen der Amerikanerinnen und Amerikaner zitterte, und die Idee der Ausnahme-Position bekam ein anderes Gesicht.
Ronald Reagan verstand das. Er hatte ein sehr feines Gespür für die kollektive Psychologie. Er verstand, dass die Verletzung geheilt werden musste, wenn Amerika sein Imperium weiter verteidigen und ausbauen wollte. Wenn der amerikanische Exzeptionalismus vorher noch nicht eine Mischung aus Ideologie und Glaube war, oder, ich würde sagen, eine Kombination aus beidem, dann machte Reagan ihn genau zu einer solchen. So hauchte er den alten Glaubenssätzen neues Leben ein, vor allem in seinen berühmten Verweisen auf John Winthrops «City on a Hill». Vom Vorabend seines Sieges über Jimmy Carter im Jahr 1980 bis zu seiner Abschiedsrede neun Jahre später zitierte er die Phrase immer wieder, wenn auch nicht immer richtig.
Ich erinnere mich lebhaft an diese Jahre. Ich erkannte ein verzweifeltes Beharren in dem übertriebenen, fahnenschwenkenden Patriotismus, der die Amerikaner im ersten Jahrzehnt nach der Niederlage in Südostasien überkam. Für mich zeigte dieser Stimmungsumschwung genau das, was er eigentlich widerlegen sollte: Amerika war plötzlich eine nervöse, unsichere Nation geworden.
Die Bedeutung dessen, was Reagan mit all seinen Bildern und Posen tat, um dem entgegenzuwirken, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Reagan hat Amerikas Selbstvertrauen nach Vietnam nicht wieder herstellen können: Meiner Einschätzung nach hat das kein amerikanischer Führer seit Reagans Zeiten bis heute geschafft. Reagans Kunststück war es, eine ganze Nation, oder zumindest den größten Teil davon, davon zu überzeugen, dass es in Ordnung ist, sich zu verstellen: Alles war Affekt und Symbolik. Er gab den Amerikanern die Erlaubnis, sich nicht mit der Wahrheit der Niederlage und des Scheiterns und des Verrats an ihren Prinzipien auseinanderzusetzen. Mit seinen Worten und seinem Auftreten demonstrierte er, dass Größe auch dann noch gespielt werden kann, wenn sie so spektakulär verloren wurde wie in Indochina.
Das ist der Exzeptionalismus, das Ausnahme-Bewusstsein, dessen viele zerstörerischen Folgen wir heute erleben. Es ist eine Ideologie, die sich dadurch auszeichnet, dass sie unterschwellig als erschöpft verstanden wird und zum grossen Teil auf Leugnung beruht. Kein amerikanischer Politiker würde es heute noch wagen, sich vernünftig gegen diese Orthodoxie auszusprechen. Das ist umso mehr der Fall, je offensichtlicher diese Orthodoxie hohl ist und je weiter sie sich von der Realität entfernt. Die einzige Alternative in diesem Fall ist Donald Trump. Er ist der erste Präsident in unserer modernen Geschichte, der den Begriff einfach abtut und das Urteil überlebt. «Ich mag den Begriff nicht», sagte Trump 2015 auf einer Wahlkampfveranstaltung in Texas. «Ich finde, ‘Wir sind aussergewöhnlich, ihr nicht’ ist keine schöne Formulierung.» Was auch immer man sonst von Trump halten mag, in diesem Punkt muss man ihm Recht geben.
Die Idee «Wir sind eine Ausnahme-Nation» muss gerettet werden
Trumps Bemerkung löste bei den liberalen Eliten, die jetzt an der Macht sind, eine merkwürdige Reaktion aus. Jake Sullivan, ein prominenter Berater in der Obama-Regierung und jetzt nationaler Sicherheitsberater von Joe Biden, veröffentlichte 2019 einen Essay, der allein schon wegen seiner Ignoranz außergewöhnlich ist. «Dies», das heisst, Trumps Bemerkung und der allgemeine Rückgang des öffentlichen Vertrauens in das US-Selbstverständnis, «ruft dazu auf, die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus zu retten», schrieb Sullivan, «sowohl vor seinen prahlerischen Befürwortern als auch vor seinen zynischen Kritikern, und sie für die heutige Zeit zu erneuern». Dann entwirft er, ich zitiere, «ein Plädoyer für einen neuen amerikanischen Exzeptionalismus als Antwort auf Donald Trumps ‘America First’ und als Grundlage für die amerikanische Führungsrolle im einundzwanzigsten Jahrhundert».
Ich finde diesen Gedanken verblüffend unüberlegt. Der Exzeptionalismus ist keine Idee: Er ist ein Glaube, und der kann nicht durch rationales Denken wiederbelebt werden, egal wie scharfsinnig das Denken ist. Was ich in Sullivans Behauptungen lese, ist kaum mehr als Zynismus der gleichen Art, wie wir ihn bei Reagan gesehen haben. Er schlug vor, ideologische Überzeugungsarbeit als Mittel zur Kontrolle der öffentlichen Meinung zu manipulieren, um die Unterstützung im Inland für die Führung des Imperiums im Ausland wiederzubeleben.
Das ist es, was der Exzeptionalismus, dieses «Wir sind eine Ausnahme»-Mentalität geworden ist: Er ist nichts weiter als ein Instrument, das als Teil eines grösseren Propagandaapparats eingesetzt wird. Das soll nicht heissen, dass er in irgendeiner Weise abgetan werden kann. Wie ich bereits angedeutet habe, ist der Exzeptionalismus, wenn er unter diesen Bedingungen – Unsicherheit und nationale Selbstzweifel – manipuliert wird, gefährlicher und zerstörerischer als er es sonst wäre, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die damit einhergehende Verzweiflung der führenden Politiker der Nation alle Grenzen für akzeptables Verhalten aufhebt.
Ich gehe davon aus, dass wir alle in der Lage sind, eine Liste der vielen entsetzlichen Fälle von amerikanischem Fehlverhalten zu erstellen, ganz gleich, welchen Ausgangspunkt man wählt. An dieser Stelle möchte ich kurz auf eine andere Folge des Ausnahmebewusstseins meines Landes eingehen.
Hannah Arendt hat 1953 einen Aufsatz mit dem Titel «Ideologie und Terror» veröffentlicht, der uns beschäftigen muss. Ideologien, so schrieb sie, «erklären alles und jedes Geschehen, indem sie daraus eine einzige Prämisse ableiten». Dann nimmt sie die Etymologie des Begriffs auseinander: «Eine Ideologie ist wortwörtlich das, was ihr Name besagt: Sie ist die Logik einer Idee.» Später erklärt sie, dass sie die innere Logik einer Idee meint, die ausserhalb ihrer eigenen Selbstreferenz gar nicht logisch sein kann.
Arendt fährt fort, die verschiedenen Auswirkungen von Ideologien auf ihre Anhänger zu beschreiben. Eine davon ist, dass sie das Denken durch den Glauben ersetzen und damit den Ideologiegläubigen die Notwendigkeit nehmen, den Akt des Denkens zu vollziehen, das heisst, mit rationalem Urteil auf Ereignisse und Umstände zu reagieren. Ein weiterer Grund ist der Effekt der Isolation. Ideologien sind in der einen Dimension Grenzen, und man steht auf der einen Seite dieser Grenzen. Diejenigen, die sich innerhalb dieser Grenzen befinden, sind Teil einer engen Verbindung, die aus Loyalitäten besteht, an denen niemand sonst teilhaben kann. Diejenigen, die ausserhalb dieser Grenzen stehen, werden einfach ausgeschlossen: Sie sind Andere. Die angedeutete Trennung ist manchmal mehr als nur psychologisch, aber sie ist psychologisch, bevor sie etwas anderes ist.
Ich nehme an, in der Mitte müssen wir «Mitläufer» zulassen, wie der alte Ausdruck lautet: Diejenigen, die die Ideologie nicht teilen, aber auf der Seite derer stehen, die sie teilen. Und hier muss ich ganz offen sagen, dass ich die Europäer aus dieser Sicht beurteile. Abgesehen davon ist es leicht zu erkennen, was Ideologen mit den Mitgliedern vormoderner Stämme gemeinsam haben. In beiden Fällen gibt es das Innen und das Aussen.
Lieber glauben als denken …
Ich erwähne Arendts langen Aufsatz und diese paar Punkte darin, um eine der nachhaltigeren Folgen der Ausnahme-Ideologie für die Amerikaner zu erklären. Niemand spricht oder schreibt viel darüber, aber wir haben uns zu einem zutiefst isolierten Volk gemacht, zu einem einsamen Volk. Das wird in der Praxis deutlich, wenn wir uns ansehen, wie sehr Amerikas Aussenpolitik heute in der ganzen Welt auf Ablehnung stösst. Eine grosse Mehrheit der Nationen und der Grossteil der Weltbevölkerung lehnen Washingtons Stellvertreterkrieg in der Ukraine ab, um nur ein Beispiel zu nennen.
Aber ich habe das Wort «einsam» mit Absicht benutzt. Die Amerikaner sind auch psychologisch von anderen isoliert, und ich würde sagen, das ist auch eine direkte Folge ihres Anspruchs, etwas Besonderes zu sein. Wie alle Ideologen – und hier möchte ich eine Verallgemeinerung vornehmen, die ich zu verteidigen bereit bin – glauben die Amerikaner im Grossen und Ganzen lieber, als zu denken. Das führt dazu, dass die Amerikaner isoliert sind, denn wer glaubt, aber nicht denken kann, ist nicht in der Lage, der Welt mit dem zu begegnen, was Erich Fromm «Spontaneität» nennt. Stattdessen ist er wie ein Automat, und diesen Begriff habe ich ebenfalls von Fromm übernommen. Jeder, der schon einmal einen solchen Amerikaner getroffen hat, und das ist nicht schwer, weiss, dass es schwierig ist, mit Menschen zu kommunizieren, die den Glauben dem Denken vorziehen.
Unser Exzeptionalismus – unser Glaube, dass wir eine Ausnahme sind – dient auch als Einschränkung: Wir sind in einer Fantasie der ewigen Überlegenheit und des Triumphs gefangen. Deshalb können wir nicht darauf hoffen, die gleiche Sprache zu sprechen wie der Rest der Welt, und das tun wir auch nicht. Wir sehen die Ereignisse nicht auf dieselbe Weise. Wir reagieren nicht auf dieselbe Art und Weise auf Ereignisse. Wir berechnen nicht die gleichen Wege nach vorne.
Kurz gesagt, weder wir verstehen noch werden wir verstanden. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Amerikaner ein einsames Volk sind. Luigi Barzini, der italienische Journalist, der die Vereinigten Staaten genau studiert hat, veröffentlichte 1953, im selben Jahr, in dem Hannah Arendt ihren Essay schrieb, ein Buch mit dem Titel «Americans Are Alone in the World». Barzini bezog sich darin auf die besondere Verantwortung, die den Amerikanern durch die Siege von 1945 zukommt. Aber ich lese in Barzinis Buch auch eine gewisse Weitsicht. Er erkannte vor seiner Zeit, dass wir aufgrund der Position, die wir plötzlich eingenommen hatten, und der Art und Weise, wie wir sie eingenommen hatten, dazu bestimmt waren, in der Nachkriegswelt auf uns allein gestellt zu sein – isoliert und, wie ich sage, einsam.
Ich will damit sagen, dass Amerikas Anspruch auf Ausnahmestellung nicht nur den Rest der Welt belastet, sondern auch die Amerikaner selbst.
Das bringt mich zu der Frage, die ich eingangs gestellt habe: Kann Amerika ohne seinen Anspruch auf Ausnahmestellung leben? Was für eine Nation wäre es in einem solchen Fall? Können wir mit anderen Worten von einem «post-aussergewöhnlichen Amerika» sprechen? Ich glaube nicht, dass es zu früh ist, über diese Fragen nachzudenken, auch wenn ich denjenigen Recht gebe, die keine Chance für eine solche Möglichkeit sehen.
Lassen Sie mich abschliessend noch kurz meine Ansichten dazu erläutern. Nach allem, was ich bisher gesagt habe, müsste jeder Wandel zu einem post-exzeptionalistischen Amerika damit beginnen, dass sich die gewöhnlichen Amerikaner – sagen wir mal: eine kritische Masse – für einen Bruch mit der Geschichte und damit für die Idee einer anderen Art von Nation öffnen. Unsere politischen Denker, Gelehrten und politischen Planer – insgesamt unsere intellektuelle Klasse – müssen sich ebenfalls öffnen.
Ich sage hier nur, was ich eingangs gesagt habe: Wenn Gesellschaften Individuen schaffen, gilt auch das Gegenteil. Der Exzeptionalismus, der sich auf die Kraft der Vorsehung beruft – «der grosse Ökonom», wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte –, ist genauso eine von Menschen gemachte Ideologie wie jede andere. Was wir gemacht haben, können wir auch wieder rückgängig machen.
Wie sehr sind die Amerikaner bereit für diesen Sprung nach vorn? Obwohl es aus der Ferne anders aussieht, glaube ich, dass viele Amerikanerinnen und Amerikaner eine solche Veränderung unbedingt wollen, wenn nicht sogar verzweifelt sind. Für diese Menschen geht es nicht darum, nationale Ambitionen abzulehnen, sondern den falschen Kurs zu verlassen, auf den sie uns gebracht haben.
Um auf die These von Du Bois zurückzukommen: Diese Wählerschaft begreift nun, dass sich die aussergewöhnliche Vorstellung von einem tugendhaften Imperium und einer florierenden Innenpolitik als verhängnisvolle Illusion erwiesen hat. Mit anderen Worten: Die Vorherrschaft im Ausland muss der Demokratie im eigenen Land weichen. Unsere politische Szene deutet stark darauf hin, dass der Wunsch wächst, diese Verschiebung der nationalen Prioritäten zu vollziehen.
Amerika ist heute ein gespaltenes Haus, auch wenn das sogar aus der Ferne kaum zu erkennen ist. Wir brauchen Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, die Nation in eine neue Richtung zu lenken. Derzeit deutet vieles darauf hin, dass sieben Jahrzehnte der Vorherrschaft zu viele unserer Führungskräfte haben unfähig werden lassen, eine neue Vision für die Zukunft der Nation zu entwickeln. Stattdessen beharren sie auf dem längst bankrotten Streben nach Demokratie und Empire – dem alten, unmöglichen Traum.
Kurz gesagt, wir haben nicht die Führung, die wir brauchen. Aber ich glaube nicht, dass wir weit davon entfernt sind, die Art von Führungskräften zu sehen, die wir brauchen. Die Zeit, die dafür nötig ist, wird sich als quälend erweisen, aber wir finden unter uns auch eine beginnende Generation von Führungspersönlichkeiten, die sich entschieden gegen unseren Zustand der Trägheit stellen.
Tulsi Gabbard, die energische antiimperialistische ehemalige Kongressabgeordnete aus Hawaii, ist nur ein Beispiel für diese aufstrebende Generation. Man mag Donald Trump oder Robert F. Kennedy jr. nicht mögen, aber das ist hier nicht mein Thema. Was auch immer man von ihnen hält, sie versuchen, eine neue politische Sprache zu sprechen – die Sprache der Post-Exzeptionalisten, die alle Amerikaner lernen müssen. Das gemeinsame Thema ist klar: Die Neugestaltung der amerikanischen Demokratie und der Verzicht auf imperiale Bestrebungen sind zwei Hälften desselben Projekts.
Das ist der Punkt, an dem wir in puncto Exzeptionalismus angelangt sind, wie mir scheint. Es ist schwer zu sagen, ob wir als Gesellschaft auf diesen Moment vorbereitet sind. Aber es ist dennoch an der Zeit – wenn wir nicht schon zu spät dran sind –, den Sprung aus dem Ausnahme-Bewusstsein in ein neues Bewusstsein von uns selbst und von anderen zu wagen. Es ist an der Zeit, etwas Gewichtiges und Massgebendes hinter uns zu lassen, um es für einmal anders auszudrücken.
Es gibt gute Gründe, unserem Moment diese Bedeutung beizumessen. Im Ausland sagt uns die Welt fast unisono, dass der Raum, den der alte amerikanische Glaube im 20. Jahrhundert noch hatte, uns im 21. nicht mehr offensteht. Das Beinahe-Chaos, das wir seit den Ereignissen des 11. September 2001 zu verantworten haben – vor allem, aber nicht nur in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien – ist für die Völkergemeinschaft nicht mehr hinnehmbar.
Ein Gebot des 21. Jahrhunderts …
Ich vertrete seit vielen Jahren die Ansicht, dass die Parität zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen ein Gebot des 21. Jahrhunderts ist, ebenso wie das Entstehen einer multipolaren Weltordnung. Im Moment leugnen die amerikanischen Politiker diese Realitäten. Wenn man realistisch ist, kann das sogar noch sehr lange so weitergehen, aber sicher nicht ewig: Früher oder später werden unsere vermeintlichen Führer diese neuen Verhältnisse akzeptieren müssen.
Im eigenen Land haben uns die intellektuellen Beschränkungen, die der Glaube an unseren Ausnahmezustand auferlegt, jahrzehntelang geschwächt. Wir brauchen jetzt dringend ein wirklich neues Denken in vielen politischen und gesellschaftlichen Bereichen, auch wenn wir uns selbst die Erlaubnis dazu noch verweigern.
Und hier komme ich zu der wesentlichen Motivation für die Amerikaner, den Sprung in die Zukunft zu wagen, den ich fordere. Die unabdingbare Voraussetzung dafür: Zuerst muss uns klar werden, dass es für uns von unschätzbarem Vorteil ist, wenn wir uns ein post-exzeptionalistisches Bild von uns selbst machen – ein Bild, demgemäss wir keine Ausnahme sind. Diese Wahrheit ist aber noch nicht zu uns durchgedrungen; keine politische Führungsfigur hat uns das gesagt. Wie wenig verstehen die meisten von uns doch, dass der Verzicht auf unsere Ansprüche auf den Ausnahmestatus vor allem einmal eine große Entlastung bedeuten würde.
Vor einigen Jahren stellte Bernd Ulrich, der bekannte deutsche Kommentator, die aus meiner Sicht wichtigste Frage. «Kann sich Amerika selbst retten?», fragte sich Ulrich in «Die Zeit». Das ist genau meine Frage, wenn ich mich mit einer post-exzeptionalistischen Idee von Amerika beschäftige. Diese Idee war in der Tat Ulrichs unausgesprochenes Thema.
«Im Prinzip absolut», antwortete er auf seine eigene Frage. «Aber sicher nicht mit allmählichen Veränderungen», schrieb er dann, und ich nehme das Zitat hier wieder auf: «In Bezug auf die Weltpolitik und die Geschichte muss sie von dem hohen Ross herunterkommen, das sie so lange geritten hat. Sie braucht ein maßvolles Selbstwertgefühl, jenseits von Superlativen und Überlegenheit.»
Ich werde das Thema an dieser Stelle verlassen, aber ich möchte zwei Bedenken äussern, die ich habe, wenn ich über diesen grossen Wandel nachdenke. Erstens: Wird angesichts der Geschwindigkeit, mit der Amerika heute in der Welt wütet, genug Zeit bleiben, um ein solches Projekt zu verwirklichen, bevor es zu spät ist und zu viel Schaden angerichtet wird? Zweitens: Werden andere genug Geduld haben, um zu warten, bis wir Amerikaner uns entschließen, eine solche Veränderung vorzunehmen? Ich wünschte, ich wäre in diesen Dingen nicht so unsicher wie ich es tatsächlich bin.
Dieser Artikel ist die überarbeitete Form eines Referates, das der bekannte US-Publizist Patrick Lawrence im Rahmen des Kongresses «Mut zur Ethik» am 31. August 2023 in Bazenheid gehalten hat (organisiert von der Genossenschaft «Zeit-Fragen»).
Dieser Artikel ist für uns eine Initialzündung uns noch vermehrt mit der amerikanischen Geschichte zu befassen. Das Institut für fortgeschrittene Gegenwartskunde der Weltwoche ist für uns ein Segen. Ein wahrer Glücksfall, der uns noch wacher, kritischer und geistig angeregter gemacht hat. Wir können Herrn Roger Köppel und seinen Journalisten nur immer wieder herzlichst dafür danken.
In meinen Augen ist dieser Möchtegern Exzeptionalismus lediglich eine euphemistische Bezeichnung für eine primitive plebejische Sklavenhaltermentalität. In den südlichen Staaten Amerikas kann man noch immer von Apartheid mit real existierenden Ku-Klux-Klan reden.
Die Ukraine wird für die USA und auch für Europa zum Stalingrad. Da können die Mainstreammedien noch lange versuchen von den Erfolgen einer ausblutenden Generation Ukrainer unter dem korrupten Diktator in Kiew schreiben was sie wollen. Man sieht bereits jetzt, wie sich nun etwa 7 Milliarden Menschen anfangen zu wehren. Die BRICS erleben Zulauf, die G7 haben auch keine Macht mehr. Der Westen kann aufgrund der Munitionsverschwendung in der Ukraine keinen anderen Konflikt mehr bekämpfen, zB. Niger