Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sieht Europa an einem sicherheitspolitischen Kipppunkt – und warnt vor einem russischen Angriff auf Litauen noch in diesem Jahr. «Das könnte unser letzter Sommer im Frieden sein», sagte Neitzel im Interview mit der Bild-Zeitung.

Die Gefahr eines Angriffs Russlands im Rahmen eines Manövers in Belarus sei real. Eine schwächelnde Nato, mögliche Isolation durch eine Wiederwahl Donald Trumps und Europas militärische Unzulänglichkeiten könnten Wladimir Putin zu einem kalkulierten Risiko verleiten.

Neitzel kritisiert insbesondere die mangelnde Reformbereitschaft der Bundeswehr und stellt der aktuellen Bundesregierung ein verheerendes Zeugnis aus. Olaf Scholz habe mit der Ablehnung einer Auswahl-Wehrpflicht «diesem Land schwer geschadet». Munition, Drohnen, Aufklärungskapazitäten – all dies sei weiterhin auf ungenügendem Niveau. «Wenn wir jetzt nicht die Weichen stellen, wird das auch 2035 nichts werden», so der Professor von der Universität Potsdam.

Für Neitzel ist die sicherheitspolitische Lage der EU alarmierend. Sollte sich Amerika aus der Nato zurückziehen, bliebe Europa auf sich gestellt – ein Szenario, das er für wahrscheinlich hält. Ein möglicher Ausweg sei eine engere sicherheitspolitische Achse zwischen Berlin, Paris, London, Warschau und Rom.

Mit Blick auf Friedrich Merz zeigt sich Neitzel vorsichtig optimistisch. Dessen mögliche Kanzlerschaft müsse aber mehr liefern als nur Sonntagsreden. «Wird Friedrich Merz ein grosser Kanzler? Olaf Scholz war es meines Erachtens sicherlich nicht – diese Frage wird sich daran bemessen, was er wirklich umsetzt, und zwar jenseits der Sonntagsreden.»