Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Linkedin eine Art erweiterte geschäftliche Visitenkarte war. Ein ständig aktueller CV, der dabei hilft, geschäftlich voranzukommen und sich mit beruflichen Kontakten per Direktnachricht auszutauschen.

Die Hürde für öffentliche Postings war relativ hoch. Disziplinierend stellten sich die allermeisten Linkedin-Mitglieder zuerst die Frage: Würde ich das auch in einem Bewerbungs- oder Verkaufsgespräch erwähnen? Zum Gewinn der Community wurden daher viele anregende Beiträge mit Substanz oder sogar geschäftlichem Wert gepostet.

Tempi passati! Wer heute durch die Linkedin-Timeline scrollt, stösst auf zahlreiche private Ferien- und Familienbilder, wie wir sie früher auf Facebook teilten. Viele Linkedin-Mitglieder fühlen sich heute bemüssigt, ihre «Life Hacks» zum Besten zu geben. Allgegenwärtig ist wichtigtuerische Selbstinszenierung: Fast jeder ist heute offenbar ein «Entrepreneur», «Digital Shaper», «Disruptor» oder zumindest ein «Start-up Expert».

Man muss aufpassen, nicht auf der Corporate-Schleimspur auszurutschen, wo jedes noch so banale Statement eines C-Level-Menschen tausendfach bejubelt und geteilt wird.

Erschwerend kommt die Inflation von Linkedin-Kontakten hinzu. Wildfremde Menschen, mit denen man noch nie zu tun hatte, wollen sich «vernetzen». Früher bestand der natürliche Instinkt richtigerweise darin, auf «Ablehnen» zu klicken. Wenn ich aber heute sehe, wer alles mit Zehntausenden Kontakten durch das Netzwerk stolziert, habe ich den Eindruck, dass sich das massgeblich geändert hat. Ich lehne unbekannte Anfragen immer noch ab. Wer ernsthaft mit mir ins Gespräch kommen möchte, der kann mit eine Direktnachricht oder gar eine E-Mail schreiben.

Wie ist es dazu gekommen, dass Linkedin heute, vielleicht nicht in der Form, aber im Inhalt, einem beliebigen sozialen Netzwerk wie Facebook, Instagram oder Tiktok ähnelt (allerdings ohne deren technische Möglichkeiten, deren Witz und Kreativität)?

Die wichtigste Ursache ist meines Erachtens die allgemeine Emotionalisierung der Arbeitswelt. Die Generation «Every Child Gets a Trophy» erobert die corporate world. Sie wurde zum Glauben an die eigene Genialität erzogen und ist damit aufgewachsen, die eigene momentane Befindlichkeit jederzeit zu zelebrieren, auch am Arbeitsplatz. Und zu dieser Befindlichkeit gehört nicht selten ein sehr plakatives Selbstbewusstsein. Diese Tendenz ist insbesondere in den USA weit vorangeschritten, aber natürlich auch in Europa spürbar.

Als Konsequenz ist die Hürde, private Befindlichkeiten im Berufsleben breitzuwalzen, allgemein gesunken. Dazu kommt, dass während der Covid-Isolation Plattformen wie Linkedin den Schwatz an der Kaffeemaschine ersetzten. Davon haben wir uns noch immer nicht erholt.

Für jemanden wie mich, der Linkedin immer noch als erweiterte Visitenkarte nutzt, ist die Plattform anstrengend geworden. Das Meer an Eitelkeiten, Emotionen und Emojis ist gar nicht so einfach auszublenden. Können wir bitte unser altes Linkedin zurückhaben?