Wolfgang Ischinger, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Ex-Botschafter in Washington, DC, und London, sieht «keinerlei Hinweise» dafür, «dass die russische Aggression auf Nato-Gebiet übergreift». Dies erklärte er anlässlich der 75-Jahr-Feier des Bündnisses in Washington dem TV-Sender Phoenix. «Wir haben zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten in Europa Krieg mit einer Nuklearmacht. Ohne dieses Bündnis, ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, wäre Europa nicht imstande, mit dieser Herausforderung umzugehen. Das ist die nackte Wahrheit», so Ischinger.

Die Abschreckung durch die Nato funktioniert seiner Ansicht nach gut. Für die Nicht-Nato-Mitglieder und Nachbarstaaten Russlands sei das russische Grossmacht-Denken allerdings eine «ganz konkrete und ziemlich schreckliche Bedrohung». Ischinger schloss eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf absehbare Zeit aus. Als Hauptgrund nannte er die notwendige Zustimmung aller 32 Mitgliedstaaten – was politisch und strategisch betrachtet derzeit nicht realistisch sei. Eine gescheiterte Aufnahme würde «Wladimir Putin auf dem Silbertablett ein kleines Geschenk offerieren», sagt der Diplomat a. D. Daher sei es besser, die Ukraine so auszustatten, dass sie sich erfolgreich verteidigen könne.

Von Europa fordert Ischinger mehr Engagement in der Auseinandersetzung mit Russland. Er sagt: «Vor allem wir Europäer müssten auch den USA gegenüber zeigen, dass wir bereit sind, mehr zu tun. Denn egal, ob Donald Trump oder Joe Biden ab Januar nächsten Jahres in Washington regieren wird: Die Erwartung wird sein, dass Amerika sich immer stärker China zuwendet, dem neuen Grossmacht-Rivalen, und davon ausgeht, dass Europa reich und eigentlich theoretisch auch stark genug ist, sich selber mit Russland und anderen Bedrohungen hier im europäischen Raum auseinanderzusetzen.» Um dies zu erreichen, müssten die europäischen Staaten enger zusammenarbeiten und ihre Verteidigung besser koordinieren.

Ischinger hofft, dass sich die «Zeitenwende» auch in den Haushaltszahlen dauerhaft niederschlagen wird. «Damit wir unseren eigenen sicherheitspolitischen Interessen genügen, müssen wir das 2-Prozent-Ziel als Untergrenze betrachten. Es geht um unsere Sicherheit, nicht nur um die der Ukraine. Und es geht nicht nur darum, einen Wunsch von Donald Trump zu erfüllen. Es geht um uns.»