Die ukrainische Armee erlebt einen Lauf sondergleichen. Nach der erfolgreichen Offensive bei Charkiw treibt sie die Russen im Süden dem Dnjepr zu. Wöchentlich werden Dutzende Dörfer befreit.

Das Gleiche gilt für die ukrainischen Geheimdienste. Zuerst die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipeline (nicht wenige Finger zeigen Richtung Kiew) und jetzt die Zerstörung der halben Krimbrücke bei Kertsch – in Kiew wähnt man sich dem Triumphbogen nah, unüberwindbar, unbezwingbar.

Die ukrainischen Politiker geniessen das Überlegenheitsgefühl der Gerechten. «Alles Illegale muss zerstört werden, alles Gestohlene muss an die Ukraine zurück. Die Besatzer müssen vertrieben werden», twittert der Präsidentenberater Mychajlo Podoljak.

Auf der Krim sei es bewölkt gewesen, obwohl auch dort warm, kommentiert Wolodymyr Selenskyj in Anspielung auf die in Flammen aufgegangenen Treibstoffwaggons.

Olexij Danilow, Sekretär seines Sicherheitsrats, kombiniert Bilder der zerstörten Brücke mit Marilyn Monroes Geburtstagsständchen von 1962: «Happy Birthday, Mr. President.» Selenskyjs Todfeind und Amtskollege Wladimir Putin feierte am Vortag seinen 70. Geburtstag.

Im Westen hat die Welle der ukrainischen Erfolge sämtliche Mahner zum Verstummen gebracht.

Verhandlungen? Überflüssig.

Ein Friede ohne Rückgabe der Krim, ohne massive Reparationen? Ausgeschlossen.

Derweil herrscht im Moskauer Kreml merkwürdige Stille. Die blutrünstigen Rachedrohungen bleiben aus, die russische Polit-Elite wirkt wie gelähmt. Hat sie Angst vor der nächsten Eskalation oder bereitet sich ein Machtwechsel vor?

Gemäss Berichten wachsen die Zweifel mit den Stufen der Rangordnung, also bis in Putins unmittelbare Umgebung hinein. Insider sagen noch für den Herbst eine Entscheidung voraus.

Am Montagmorgen kamen dann Meldungen über Raketeneinschläge in Kiew – näher am Stadtzentrum als je zuvor in diesem Krieg. Es ist eine unmenschliche Rache, doch aller ukrainischen Euphorie zum Trotz gilt: Am Ende geht auch dieser Krieg über die volle Spielzeit. Selbst wenn Putins Tage gezählt sein sollten, garantiert das keinen Frieden. Auch eine Nato-Beteiligung an dem Konflikt, herbeigeredet oder insgeheim herbeigewünscht, ist nicht vom Tisch.

Noch hat die Politik – vielleicht – die Möglichkeit, das Schlimmste abzuwenden.